GHDI logo

Das Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei (12. Juni 1867)

Seite 2 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Die Einigung des ganzen Deutschlands unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Aufgabe der Gegenwart.

Einen monarchischen Bundesstaat mit den Bedingungen des konstitutionellen Rechtes in Einklang zu bringen, ist eine schwere, in der Geschichte bisher noch nicht vollzogene Aufgabe; die Verfassung des Norddeutschen Bundes hat sie weder vollständig im Umfange, noch in endgültig befriedigender Weise gelöst. Aber wir betrachten das neue Werk als den ersten unentbehrlichen Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht gefestigten deutschen Staate. Der Beitritt Süddeutschlands, welchen die Verfassung offenhält, muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen Umständen darf er die einheitliche Zentralgewalt in Frage stellen, oder schwächen.

Eine aus der Vermittlung der praktischen Bedürfnisse hervorgegangene Verfassung ist niemals ohne Mängel zustande gekommen, diese wuchsen mit der Zahl der widerstreitenden Interessen, doch war es stets ein Zeichen gesunder Lebenskraft, daß die bessernde Hand sofort zu wirken begann. Wir sind dem Lose menschlicher Unvollkommenheit nicht entgangen, aber die Schwierigkeiten haben uns nicht entmutigt und die Mängel uns nicht blind gemacht gegen die guten Keime. Wie unsere Partei im Entstehen zu bessern bemüht war, so wird sie ununterbrochen und schon im nächsten Reichstage darauf hinarbeiten, die Verfassung in sich auszubauen.

Im Parlament erblickten wir die Vereinigung der lebendig wirkenden Kräfte der Nation. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, solange Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht polizeilich verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die Wahlen bürokratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Versagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Am Volke liegt es jetzt, für die Reinheit der Wahlen einzutreten; angestrengten Bemühungen wird es gelingen, seine Stimme wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu bringen, und dann wird das allgemeine Wahlrecht selbst das festeste Bollwerk der Freiheit sein, wird es die in die neue Zeit hineinragenden Trümmer des ständischen Wesens wegräumen und die zugesicherte Gleichheit vor dem Gesetz endlich zur Wahrheit machen.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite