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6. Militär und internationale Beziehungen
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Verträge und Bündnisse. Das Abkommen von Nikolsburg vom 26. Juli 1866 (D1) beendete effektiv das diplomatische Ringen zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft im deutschsprachigen Mitteleuropa. Vier Jahre später wurde der Sieg der Deutschen über die Franzosen von Benjamin Disraeli als eine Revolution in Europa beschrieben, deren Folgen sich auf jede andere Großmacht auswirkten (D2). Über die folgenden zwei Jahrzehnte war Bismarcks Politik gekennzeichnet durch Vorsicht und die Konsolidierung der deutschen Macht, sowohl im Inneren als auch nach außen. Jene Politik richtete sich nach Kernprinzipien, von denen der Kanzler niemals abrückte. Erstens wollte er Europa und der Welt versichern, dass Deutschland eine „gesättigte“ Nation und dem Frieden verpflichtet sei. Zweitens erforderte sein „Alptraum der Koalitionen“ (D4) – die Angst, zwei oder mehr Großmächte würden sich gegen Deutschland verbünden –, dass er Frankreich diplomatisch isolierte. Zu diesem Zweck ermunterte Bismarck Frankreich, seine Revanchegefühle wegen des Verlustes Elsass-Lothringens auf die koloniale Expansion umzulenken, während er drittens Russland freundschaftlich gegenüber Deutschland halten wollte – oder wenigstens wohlwollend genug, um es vom Beitritt in ein gegnerisches Bündnis abzuhalten (D5, D6, D7, D8, B2, B4, B5, B6). Viertens stützte der Reichskanzler konsequent die Macht und das Ansehen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, mit der Deutschland 1879 ein formales Bündnis einging.

Im Nachhinein neigen Studierende häufig zu der Schlussfolgerung, Bismarcks Bilanz – seine drei erfolgreichen Kriege zwischen 1864 und 1871 und seine Meisterschaft in der Realpolitik – mache ihn uneingeschränkt zu einem „Genie“. Diese Zuschreibung des Genialen scheint auch angebracht zu sein, wenn man Bismarcks Leistungen mit dem vom Auswärtigen Amt nach 1890 verfolgten Zickzackkurs vergleicht, wenn man die Wandlung der deutsch-englischen Rivalität zu Entfremdung und Feindschaft nach der Entscheidung Kaiser Wilhelms II. in Betracht zieht, eine Schlachtflotte in der Nordsee zu stationieren, und wenn man bedenkt, dass der nicht zu gewinnende Zweifrontenkrieg, mit dem sich Deutschland 1914 konfrontiert sah, die bei weitem größte Bedrohung darstellte, die Bismarck während seiner Amtszeit abwenden konnte. Es mag zutreffen, dass Bismarck der Welt 40 Jahre Frieden verschaffte und ein begnadeter Taktiker der Diplomatie war, als er beispielsweise den ehrlichen Makler beim Berliner Kongress 1878 spielte (B3). Eine solche nachträgliche Einsicht ist allerdings nicht scharfsichtig. Sie lässt die aggressive Expansionspolitik und die furchtbaren menschlichen Opfer außer Acht, die ebenso Teil seiner Realpolitik von 1862 bis 1871 waren. Am Ende seiner Amtsperiode kann man außerdem sowohl Bismarcks Genialität als auch seine langfristigen Ziele in Frage stellen. Insbesondere scheint er die Zugkraft des Nationalismus im In- und Ausland gleichermaßen unterschätzt zu haben. Der Nationalismus untergrub den diplomatischen und militärischen Wert seines einzigen loyalen Verbündeten,


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