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4. Religion, Bildung, Sozialwesen
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Protestanten und Katholiken. Historiker neigten früher zu der Argumentation, dass religiöse Bindungen angesichts von Modernisierungstrends, wie sie in den ersten drei Kapiteln dieses Bandes aufgezeichnet worden sind (Bevölkerungsexplosion, Verstädterung, Industrialisierung, Aufstieg einer selbstbewussten Arbeiterklasse, Vergötterung von Wissenschaft und Technik, Kulturpessimismus) unweigerlich schwinden. In ähnlicher Weise implizieren Historiker, wenn sie feststellen, die Modernisierung habe den traditionellen Kirchturmhorizont überwunden, die Religion sei von anderen strukturgebenden Kategorien wie Klasse, Geschlecht und Ideologie abgelöst worden. Doch während des Kaiserreichs wurde Religion nicht in dieser Weise irrelevant (B1, B2). Ganz im Gegenteil: die Religion formte weiterhin die Anschauungen der Deutschen so, wie sie dies jahrhundertelang getan hatte, während sie gleichzeitig den Anstoß für bedeutende Neuorientierungen auf nationaler Ebene gab.

Darunter war der Kulturkampf zwischen dem deutschen Staat und der katholischen Kirche am Bedeutendsten. Den Kulturkampf hatte Bismarck nicht aus dem Nichts heraufbeschworen; er nährte sich aus der Entschlossenheit der protestantischen Liberalen, den von ihnen als archaisch und gefährlich betrachteten Einfluss der römisch-katholischen Hierarchie im Allgemeinen und die Autorität des Papstes im Besonderen zu brechen (D2, D4, B6, B7, B8, B9). Da der Papst, die katholischen Priester und die Parteiführer, die die Rechte der Katholiken verteidigten, von Bismarck und den Liberalen zu „Reichsfeinden“ erklärt wurden, sind die meisten Dokumente, die den Verlauf und die Folgen des Kulturkampfs genauer beleuchten, in Kapitel 7 enthalten, in dem auch weitere staatliche Diskriminierungskampagnen gegen Minderheiten berücksichtigt werden. Doch dieser Konflikt war kultureller Art: Er kann nicht auf seine rein konfessionellen oder parteipolitischen Dimensionen verkürzt werden. Beruhend auf der enormen Zunahme der Volksfrömmigkeit in den Jahrzehnten um die Jahrhundertmitte lieferte die Religion auch weiterhin einen Filter, durch den die überwältigende Mehrheit der Deutschen die materiellen Umstände ihres Lebens und den „christlichen Staat“ betrachteten und von dem sie Orientierung erwartete (D1, D3, B4, B5). Somit half die Religion, den Diskurs über die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die richtigen Praktiken und legitimen Zielgruppen wohltätiger Werke, den Umfang der Sozialreform und die rechtmäßigen Grenzen der Zensur zu formen.


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