In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es im deutschen Geistesleben einflussreiche Strömungen, die sich aus der kulturellen Tradition der Klassik und der philosophischen Tradition des Idealismus herleiteten und die Auffassung vertraten, alles systematische Wissen bilde eine Einheit. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Richtung war der Philosoph G.W.F. Hegel (1770-1831). Seine hier in Auszügen wiedergegebene Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1817 stellte eine Art Abriss der Einheit eines solchen Wissens dar. Hegels verschachtelter Schreibstil ist berühmt-berüchtigt für seine schwere Verständlichkeit, aber bei der Lektüre sollte Hegels Argument erkennbar werden, dass die Philosophie, weil sie sowohl mit der Schaffung als auch mit der Definition von Begriffen befasst ist, die Grundlage allen Wissens bildet. Hegel entwickelte seine grundsätzlichen Gedanken zur Physik und der Biologie anhand philosophischer Begriffe und hatte keine Hemmungen, Isaac Newtons physikalische Theorien auf der Grundlage seiner Philosophie zu kritisieren.
Was man heute als Geistes- und Sozialwissenschaften bezeichnen würde, integrierte Hegel ebenfalls in seine Einheit des Wissens. In dem hier vorliegenden Auszug aus seiner Vorlesung über „Die Vernunft in der Geschichte“, die er in den 1820er Jahren als Professor an der Universität Berlin hielt, führte er aus, dass der Sinn der Menschheitsgeschichte im Fortschritt des philosophischen Konzepts der Freiheit liege.
Alexander von Humboldt (1769-1858) war Naturforscher und Entdecker, dessen berühmte Expedition nach Südamerika in den Jahren von 1799 bis 1804 die Grundlagen für eine lebenslange wissenschaftliche Beschäftigung mit Botanik und Naturgeschichte legte. Zwischen 1845 und 1858, gegen Ende seines Lebens, verfasste Humboldt das mehrbändige Werk Kosmos. Darin versuchte er, die Einheit des gesamten natur- und geisteswissenschaftlichen Wissens dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass er zeigte, wie dieses Wissen mit den menschlichen Wünschen und Leidenschaften verbunden war und welche Bezüge es zur angewandten Technik und praktischen Wirtschaftskunde aufwies.
Humboldts Bemühen, die Einheit des Wissens zu formulieren, ist eines der letzten Beispiele für einen derartigen, der Klassik und dem Idealismus verpflichteten Versuch. Bereits in den 1820er Jahren machte sich eine ganz andere Auffassung bemerkbar, die sich nach der Jahrhundertmitte unter den deutschen Gelehrten und Naturwissenschaftlern durchsetzen sollte. Der Physiker Hermann von Helmholtz (1821-1894), der das Gesetz von der Erhaltung der Energie formulierte, bezog 1862 in seiner Antrittsvorlesung als Prorektor der Universität Heidelberg deutlich Stellung gegen Hegels Vorstellung von der philosophischen Einheit des Wissens. Vielmehr nahm er klare begriffliche und epistemologische Unterscheidungen zwischen den Naturwissenschaften und der Physik auf der einen und den Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite vor.
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