Es ist nicht unfair zu behaupten, ein Umweltbewusstsein im modernen Sinn oder das Gefühl, dass industrielle und technische Entwicklungen die Natur bedrohten, habe in Deutschland zwischen 1815 und 1866 nicht existiert. Industrialisierung und Verstädterung nahmen in diesen Jahren erst ihren Anfang. Es gab gewiss Fälle, in denen Gase oder Flüssigkeiten aus den ersten Fabriken austraten und dann in ihrer Umgebung Schaden verursachten sowie die Anwohner belästigten oder verärgerten. Erste staatliche Vorschriften für solche Emissionen und gesetzliche Vorgaben, die diese als öffentliches Ärgernis einstuften, ähnlich dem Überfließen von Jauchegruben, stellten keine effizienten Maßnahmen dar, um mit derartigen, bis zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich ungewöhnlichen Vorkommnissen fertig zu werden. Wie die folgenden Dokumente erkennen lassen, waren sich die Zeitgenossen ziemlich unsicher, wie man diese neuen Entwicklungen bewerten und wie man mit ihnen umgehen sollte.
In der westfälischen Stadt Iserlohn wurde 1816 eine Chemiefabrik gegründet. Beschwerden von Anwohnern und Maßnahmen der Behörden dagegen gab es schon seit 1830, aber, wie die folgenden Dokumente zeigen, schien das Interesse begrenzt, sich mit der Angelegenheit wirklich auseinanderzusetzen. Der Fabrikbetrieb wurde 1853 schließlich eingestellt.
1862 überreichte eine Gruppe von Ulmer Einwohnern dem Bayerischen Innenministerium eine Petition, in der sie sich über die Luftverschmutzung beschwerte, die auf den zunehmenden Einsatz von Kohle als Brennstoff in größeren Fabriken zurückzuführen war. Die Bayerische Central-Stelle für Gewerbe und Handel wurde um eine Stellungnahme gebeten und gab zu, dass die Vorwürfe der Beschwerdeführer berechtigt seien, sah sich jedoch nicht in der Lage, eine durchgreifende Lösung des Problems vorzuschlagen, sondern deutete vielmehr an, dass sich die Ulmer Bevölkerung einfach daran würde gewöhnen müsse.
Zur gleichen Zeit wurde sich die Ärzteschaft in Deutschland erst ganz allmählich darüber klar, dass die industriebedingte Umweltverschmutzung ein potentielles Gesundheitsrisiko darstellte. Die folgende Quelle ist ein Auszug aus dem klinischen Bericht über eine Autopsie, der in der medizinischen Zeitschrift Deutsche Klinik im Jahr 1860 von Professor Ludwig Traube, Arzt am Berliner Universitätskrankenhaus Charité, veröffentlicht wurde. Dieser Bericht verdeutlicht, wie sich innerhalb der deutschen Medizinwissenschaft die Auffassung durchsetzte, dass die Staublunge eine Krankheit war, die ursächlich mit dem Einatmen von Kohlenstaub zusammenhing und sich darin von anderen in dieser Zeit weitverbreiteten Atemwegserkrankungen wie Influenza, Lungenentzündung, Bronchitis und Tuberkulose unterschied.
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