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3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft
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Überblick   |   1. Die Lage im Jahre 1945   |   2. Wirtschaft und Politik in den beiden deutschen Staaten   |   3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft   |   4. Kultur   |   Empfehlungen zur weiterführenden deutschen Literatur   |   Empfehlungen zur weiterführenden englischen Literatur

Die von den Alliierten sowie den beiden deutschen Staatsführungen ausgeübte Politik nach 1945 und der Wiederaufbau des wirtschaftlichen und politischen Lebens sind nicht die einzigen Themen, die eine genauere Betrachtung verdienen. Es gilt, auch die gesellschaftlichen Veränderungen und die vielen dadurch aufgeworfenen Fragen zu betrachten. Wie bewältigten sowohl die gesellschaftlichen Eliten als auch die deutschen Durchschnittsbürger das Chaos von 1945? Was wurde aus den Gesellschafts- und Familienstrukturen des Landes? Und was geschah mit dem kulturellen Leben im weitesten Sinne?

Gelegentlichen Besuchern des besetzten Deutschland, die auf den physischen, psychischen und moralischen Trümmerhaufen blickten, der Mitteleuropa im Sommer 1945 war, ist es nachzusehen, dass sie glaubten, das Land befinde sich mitten in einer sozialen Revolution und dass dies die „Stunde Null“ sei. Das Bild war jedoch trügerisch. Die sozialen Strukturen erwiesen sich als recht beständig, ebenso wie die kulturellen Einstellungen und Praktiken. Die Auswirkungen der NS-Diktatur und des Krieges waren ohne Zweifel tiefgreifend, sie resultierten jedoch nicht in einer tabula rasa. Betrachtet man beispielsweise rein quantitativ das, was Soziologen die „Zirkulation der Eliten“ nennen, so wird deutlich, dass die Fluktuation tatsächlich weitaus geringer war, als menschliche Verluste und Kriegszerstörungen die Zeitgenossen anfangs hatten glauben lassen. Von einem stärker qualitativ orientierten Gesichtspunkt betrachtet, ergibt sich ein Bild, dass angesichts dessen, was die deutsche Gesellschaft soeben überstanden hatte, so komplex wie verblüffend ist.

Es ist nicht überraschend, dass die Zeitgenossen die unmittelbaren Nachkriegsjahre in Deutschland als eine große Krisenzeit empfanden. Ihre Perspektiven wurden jedoch von ihren eigenen politischen Ansichten und Kriegserfahrungen geformt und unterschieden sich daher stark voneinander. In den westlichen Besatzungszonen – besonders der amerikanischen – bestanden jüdische DPs, von denen der Großteil aus Mittel- und Osteuropa stammte, auf getrennten DP-Lagern, da sie glaubten, diese würden es ihnen ermöglichen, sich wieder jüdische Existenzen aufzubauen, eine Aufgabe, die sie sowohl persönlich als auch politisch verstanden. Jüdische Organisationen forderten vehement eine Verbesserung der Lagerbedingungen und die Ausstellung von Visa, die eine Emigration aus Deutschland ermöglichen würden. Jüdische Männer und Frauen, von denen die meisten ihre Familien durch den Genozid der Nazis verloren hatten, gingen neue Beziehungen ein und heirateten so schnell, dass es für alliierte Beobachter oft verstörend war. Bald darauf folgte ein wahrhafter jüdischer Baby Boom. Während der folgenden Jahre sollte es nur eine sehr kleine jüdische Gemeinde sein, die sich in Deutschland, hauptsächlich im Westen, ansiedelte oder wiederansiedelte. In beiden deutschen Staaten sahen Juden sich weiterhin sowohl mit Antisemitismus als auch Forderungen nach völliger Assimilation konfrontiert.

Die Geburtenrate nichtjüdischer Deutscher war in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und bis in die 1950er Jahre hinein wesentlich niedriger. Die Gründe hierfür liegen in einer Vielzahl von Faktoren, beispielsweise waren viele Frauen in gebärfähigem Alter Kriegswitwen und konnten – oder wollten – nicht unmittelbar einen neuen Partner finden. Zudem scheiterten viele Ehen, die den Krieg überstanden hatten, in der Nachkriegszeit, als wirtschaftliche und soziale Härten die Scheidungsraten hochschnellen ließen. Bis in die späten 1940er Jahre konnten Frauen jeglicher ethnischen Herkunft in allen Besatzungszonen von einer Notfall-Abtreibungsregelung Gebrauch machen, die in Reaktion auf die erschütternd hohe Zahl von Vergewaltigungen (besonders durch sowjetische Soldaten) am Kriegsende getroffen worden war. Einige Neugeborene wurden misstrauisch beäugt, besonders uneheliche Kinder oder die Kinder deutscher Frauen und afroamerikanischer Soldaten. Die öffentliche Diskussion über die verschiedenen Probleme, mit denen diese „Mischlingskinder“ in der Zukunft konfrontiert sein würden, machte deutlich, dass viele Deutsche Schwierigkeiten hatten, sich ihre Mitbürger anders als mit weißer Hautfarbe vorzustellen – und dies zu einer Zeit, als viele in der Folgezeit des NS-Rassismus auf eine farbenblinde Gesellschaft hofften.



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