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4. Religion, Bildung, Sozialwesen
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Jüdisches Leben und die Zunahme des politischen Antisemitismus. Juden wurden ebenso wie Katholiken zur Zielscheibe von Nationalisten, die von der Notwendigkeit besessen waren, einen konfessionell homogenen Nationalstaat zu schaffen und zu verteidigen. Die 1870er Jahre waren nicht nur das Jahrzehnt, in dem das Vereinsleben zur Unterstützung der konfessionellen Ziele von Protestanten und Katholiken sich rasch ausweitete, sondern auch das Jahrzehnt, in dem eine angebliche jüdische Bedrohung für die junge deutsche Nation Antisemiten mit Wort und Tat mobilisierte. Ein Anstoß für die regelrechte Explosion des politischen Antisemitismus ergab sich aus der Wahrnehmung, dass Juden unverhältnismäßig stark von den mit der Gründerzeit verbundenen Skandalen profitiert hatten. Die Propaganda, mit der die Botschaft der Antisemiten in jeden Winkel des Landes getragen wurde, ging zurück auf jahrhundertealte Stereotypen und Unwahrheiten über Juden, zum Beispiel ihre angebliche Neigung zur Wucherei und die Ritualmordlegende. Doch ein weiterer Grund für die Antipathie gegen Juden ist in der Unsicherheit der Deutschen darüber zu erkennen, ob die Grenzen ihrer Nation klar genug bestimmt waren, um den Herausforderungen einer prekären Lage in Europa und dem internationalen, ja globalen Wirkungskreis wirtschaftlicher und kultureller Netzwerke gewachsen zu sein (B10, B11). In diesem Zusammenhang fiel es besorgten Nationalisten leicht zu behaupten, Deutschland würde nie wirklich geeint sein, bis man den jüdischen „Feind im Inneren“ bezwungen habe.

In offenkundigem Gegensatz zum radikalen Antisemitismus, der auf die Niederlage 1918 folgte, und der staatlich betriebenen Ermordung von sechs Millionen Juden nach 1933, zog der Antisemitismus der Bismarckzeit nicht genug Unterstützung an, um zu weitverbreiteten Gewaltaktionen gegen Juden zu führen. Zudem zerstörte er nicht die Zuversicht der Juden, dass sich Deutschland im Laufe der fortschreitenden Modernisierung zu einer angenehmeren Heimat entwickeln würde. Nichtsdestoweniger bedurfte die Förderung der jüdischen Integration in die deutsche Gesellschaft großer Anstrengungen, wie Emil Lehmanns Kampagne für jüdische Rechte in Sachsen (D6, D14, B15) und die öffentliche Fürsprache angesehener Persönlichkeiten während des „Berliner Antisemitismusstreits“ (D15, B12, B13, B14, B18) nahelegen. Hier aufgenommene Dokumente (D9, D10, D11, D16, D17) liefern erschreckende Beispiele für die Radikalität und Deutlichkeit der Sprache, derer sich antisemitische Führer und Publizisten selbst zu Bismarcks Zeiten bedienten. Sie sprachen davon, die Juden zu ächten, ihre „beherrschende“ Stellung in der deutschen Geschäftswelt, Kultur und Presse zu zerstören, sie ihrer bürgerlichen und politischen Rechte zu berauben, sie aus dem deutschen Staatsgebiet auszuweisen und sogar körperliche Gewalt gegen sie anzustiften (D9, D10, D11, D16, D17, B16, B17, B19).


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