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3. Kultur
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Musik, Dichtung und Prosa. Die Entstehung des Deutschen Kaiserreichs wurde durch ein Requiem vorweggenommen. Johannes Brahms’ Ein Deutsches Requiem (Opus 45), das 1868 vollendet wurde, war ein Monument im Werk des Komponisten (D21). Es schien die bevorstehenden großen nationalen Ereignisse vorauszuahnen, indem es die Zeilen aus Korinther I, 15 übernimmt: „[. . . ] Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.“ Anders als Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Gründerlieder (D23), welche die Ambitionen der Spekulanten Anfang der 1870er Jahre verspotteten (D17), erzeugte Brahms‘ Requiem eine tiefere Resonanz, eine breitere Reflexion über die Einigungsleistung – mit Sicherheit tiefer als die Strophen der Wacht am Rhein, die deutsche Soldaten bei ihrem Marsch an die Front im Sommer 1870 anstimmten (D22). Ebenso lässt sich der letzten großen Oper Richard Wagners, die im ersten Jahrzehnt des Deutschen Reichs erstmals auf die Bühne kam, kaum mangelnde Resonanz nachsagen. Als Wagners Ringzyklus 1876 in Bayreuth uraufgeführt wurde, stellte er den Höhepunkt in der Suche des Komponisten nach einem „Gesamtkunstwerk“ (D24, B39) dar, das erhaben und einzigartig genug war, um sowohl dem altertümlichen als auch dem modernen Deutschland gerecht zu werden. Danach sollte die deutsche Musik, ob zum Schaden oder Nutzen, nie mehr so sein wie zuvor, gleichwohl fand Theodor Fontane vertraulich gute Gründe, auf eine Aufführung von Wagners Parsifal zu verzichten (D25).

Relativ wenige Lyriker und Prosaschriftsteller dieses Zeitalters machten sich in der deutschen Literatur einen bleibenden Namen. Die bedeutendste Ausnahme ist der Gigant des deutschen literarischen Realismus, Theodor Fontane, dessen Roman Der Stechlin in Kapitel 7 in Auszügen wiedergegeben ist. Der Stechlin leistet drei Dinge auf einmal: Er fängt den Geist und Ton anderer Literaturwerke dieser Epoche ein, beschreibt mit trockenem Humor den Ablauf einer lokalen Wahlkampagne in der preußischen Provinz und vermittelt Fontanes typische Mischung aus Bewunderung für Preußens reiches Erbe und seine Sorge, dass die deutsche Gesellschaft ihren moralischen Kompass verloren hatte (D8). Dieselbe Sorge findet sich in anderen Quellen, die zusammen betrachtet ebenfalls ein gegensätzliches Meinungsspektrum ergeben: festliche Gedichte und satirische Karikaturen (D1, B34, B35, B36, B37), allegorische Wandgemälde und Brettspiele für Kinder (B2, B5), monumentale Baukunst und kitschige Festzüge (B3, B6), Stellungnahmen zur damaligen Stimmung aus dem In- und Ausland (D3, B7), Innenansichten der deutschen Sprache und Grammatik (D12, D13) und Bemühungen, eine kulturell gebildete Öffentlichkeit zu fördern und gleichzeitig die Leistungen der Avantgarde zu feiern (D10, D11). Die Vielfalt der Arten, auf die der deutsche Kulturbetrieb dieser Jahre sowohl den Stolz auf die nationale Leistung als auch die Bedenken hinsichtlich ihrer zukünftigen Konsequenzen widerspiegelt, lässt sich kaum überbetonen. Die Eröffnung einer Nationalgalerie in Berlin 1876 mag zwar nicht die erhoffte Chance geboten haben, in einem einzigen Tempel die Mannigfaltigkeit kultureller Ausdrucksformen unter Bismarck zu versammeln. Die erste Erwerbung der Galerie, Adolph Menzels Eisenwalzwerk (B20), verdeutlicht allerdings die Torheit, das neue Deutschland als „unkünstlerisch“ abzustempeln und es einfach dabei zu belassen.


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