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2. Gesellschaft
Druckfassung

Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Arbeitsbedingungen. Dieser Abschnitt beleuchtet die Auswirkungen der sich verändernden kapitalistischen Produktionsverfahren in den 1870er und 1880er Jahren (B12, B14, B15). Einerseits waren Handwerker und andere Angehörige des Mittelstands in schwerer Bedrängnis, auch nur die Reste des „goldenen Zeitalters“ zu wahren, von dem sie – fälschlicherweise – behaupteten, es habe ihre Arbeitsbedingungen und Lebensweise vor der Reichseinigung beschrieben (D15, D16, D17, B16, B17). Andererseits erzeugten das Fortschreiten der Industrialisierung und die Ausweitung der Geschäfts- und Konsumkultur neue Möglichkeiten für soziale Gruppen wie die Verkaufsangestellten (D18). Die Betrachtung beider Gruppen erinnert daran, dass die Industrialisierung immer Gewinner und Verlierer hervorbringt. Die Berichte von Flachsbauern in der Lüneburger Heide und Landarbeitern in Mecklenburg oder Pommern (D19, D20, D21) lassen, ähnlich wie jene, die hierarchische Abstufungen bei der Arbeiterschaft in einer Stahlfabrik oder Arbeitskämpfe in Hamburg beschreiben (D26, D28), darauf schließen, dass selbst innerhalb scheinbar monolithischer Berufe eine komplexe Schichtung von Arbeitsaufgaben und sozialer Rangordnung erkennbar war (B13). Jene Schichtung verblüffte häufig Sozialwissenschaftler (D51, D52, D53, D54), die herauszufinden versuchten, weshalb die Ausgaben und Lebensweise der deutschen Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum so stark variierten – und dies trotz des allgemeinen Drucks, die Familie mit den lebenswichtigen Gütern zu versorgen und gleichzeitig ein paar Pfennige als Notabsicherung bei Verletzung, Arbeitslosigkeit, Altersgebrechlichkeit oder anderen Lebensrisiken zu sparen (D46, D47, D48, B23). Ihre Studien lieferten oft mehrdeutige Antworten oder erhielten Mythen über die ungesunde und „unvernünftige“ Lebensweise der Arbeiter aufrecht. Doch für Historiker ist es erfreulich, dass Umfrageforscher und Fotografen über die Türschwellen so vieler Haushalte traten, denn ihre Arbeit liefert einen Einblick in das häusliche Leben von Deutschen, die kein anderes Zeugnis ihrer Alltagsbeschäftigungen hinterließen.

Geschlechterbeziehungen. Nach vielversprechenden Ansätzen 1848/49 und Mitte der 1860er Jahre machten sowohl die Frauen aus dem Bürgertum als auch die Frauenbewegungen aus der Arbeiterklasse ziemlich geringe Fortschritte in den 1870er und 1880er Jahren. Das Anwachsen der Sozialdemokratischen Partei in den 1890er Jahren und das Infragestellen bürgerlicher Werte, welche die philosophischen und künstlerischen Bewegungen des Fin de Siècle begleiteten, waren Voraussetzungen für erfolgreichere Forderungen nach Frauenrechten. Doch die Bismarckzeit war alles andere als frei von Kommentaren zur Doppelmoral, die damals die Geschlechterbeziehungen charakterisierte (D29, D30). Nicht nur Literaturwissenschaftler, Künstler und Fotografen (D29, B16, B17, B18), sondern auch Aktivisten und Sozialwissenschaftler mit weit auseinandergehenden Absichten legten jede Menge Analysen der „Frauenfrage“ vor. Solche Analysen dokumentierten die sexuelle Ausbeutung von Frauen inner- und außerhalb des Arbeitsplatzes (D22, D23), die soziale Herkunft der Eltern unehelicher oder vaterloser Kinder (D31, D32, D48), die staatliche Überwachung von Prostituierten (D33, D34, D35) und die vielen Einschränkungen, die der Handlungsfreiheit der Frauen auferlegt wurden – deren Fähigkeit, ihr Eigentum in der Ehe zu schützen, sich innerhalb oder außerhalb der Familie weitere Rechte vor dem Gesetz zu sichern oder am Vereinsleben und an der Politik teilzunehmen.


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