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2. Gesellschaft
Druckfassung

Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Wehmut über das Verschwinden der Stände und gemischte Gefühle gegenüber der neuen Bedeutung von Klassenbeziehungen lassen sich in zeitgenössischen Bildern erkennen. Sie dokumentieren die Entfernungen in Zeit und Raum, die das Mittagessen eines Wanderarbeiters in Thüringen (B1) von einem sonntäglichen Spaziergang für Großbürger auf Dresdens berühmter Brühlscher Terrasse (dem „Balkon Europas“) (B2) trennten. Satirische Zeitschriften machten sich lustig über die neuen Prätentionen, die offenkundig wurden, als diese Klassenunterschiede sich vergrößerten. Sie merkten beispielsweise an, dass die Behauptungen, „das Volk“ zu vertreten, häufig ausgerechnet von den privilegiertesten und am engsten begrenzten Eliten vorgebracht wurden (B3). Die Jagd nach Orden und Titeln beseelte auch weiterhin Bürger, die erpicht darauf waren, mit Höflingen und den Reichsten zu verkehren (D4, D5, B4, B5). Und erfolgreiche Industrielle wie Alfred Krupp und Carl von Stumm taten ihr Möglichstes, um die Hierarchien des Ranges und der Autorität (D7, D8, D11, D12) in das Gefüge der Arbeitsverhältnisse im Unternehmen zu übernehmen. Bankiers, Rechtsanwälte, Professoren und andere Mitglieder des Besitz- und Bildungsbürgertums stimmten zusätzlich in das Geschrei nach sozialem Prestige ein (D9, D10, D13, D14, B4, B5, B7, B9). Diese neuerdings erwerbssüchtige Gesellschaft entsetzte den Romanschriftsteller Theodor Fontane (D6, B6), der sich über das Paradox äußerte, dass die Allgegenwart des Prestigestrebens und der Kunst, den anderen immer eine Nasenlänge voraus zu sein, in Wahrheit einen nivellierenden Effekt auf die Gesellschaft als Ganzes hätte.

Zu den weiteren ausgleichenden Einflüssen zählten ein nahezu umfassender Alphabetisierungsgrad, der Aufstieg einer Massenpresse, der verbesserte Zugang der bürgerlichen Jugend zu höheren Schulen, Universitäten und technischen Hochschulen, die Allgegenwart der Konsumkultur und die allgemeine Zunahme im Verhältnis der Familieneinkünfte, die (nach Begleichung der Kosten für unentbehrliche Lebensmittel, Bekleidung und Unterkunft) für beliebige Ausgaben verfügbar waren. Für die Arbeiterklasse stieg dieser Anteil von etwa 40 Prozent der Familieneinkünfte in den 1870er Jahren auf 55 Prozent in den 1890er Jahren. Unter den nivellierenden Einflüssen wurde Bildung mit der Zeit als die bedeutendste Möglichkeit betrachtet, die einem Aufstieg entgegenstehenden Hindernisse in städtischen ebenso wie ländlichen Gebieten zu überwinden. Auch neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel trugen Unzufriedenheit von einem Bereich in den anderen und boten Aussicht auf ein Entkommen, wenn diese Unzufriedenheit nicht mehr zu ertragen war. Über einen längeren Zeitraum und mit großen Abweichungen unter den Regionen lockerten sich oder verschwanden die sozialen und institutionellen Einschränkungen, die das Leben für die meisten Deutschen vor 1866 hart, beschwerlich und kurz gemacht hatten. Das Niveau der in den 1870er Jahren erreichten geographischen und sozialen Mobilität deutete darauf hin, dass es keine Umkehr gab von einer dynamischen Gesellschaft, die den Revolutionären von 1848/49 noch weit entfernt erschienen war.


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