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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Viertens und letztens erinnern die unerwarteten Verlaufsrichtungen und nicht antizipierten Krisen daran, dass die von Deutschen gehegten Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich des Schicksals der neuen deutschen Nation sich zwischen 1871 und 1890 nicht verringerten. Diese Feststellung schärft beim Beobachter das Bewusstsein, dass die Geschichte des Bismarckschen Deutschland als ein Buch gelesen werden muss, dessen Ende, weil unbekannt, einem tiefen Gefühl der Verunsicherung unter den Zeitgenossen Vorschub leistete. Selbst wenn diese Besorgnis sich größtenteils erst in der wilhelminischen Zeit zeigte und radikalisierte, konnten die Deutschen um die Jahrhundertwende beim Rückblick auf das vorangegangene Vierteljahrhundert zu Recht erstaunt sein, in welchem Ausmaß das Erscheinungsbild der deutschen Gesellschaft sich verändert hatte – und wie rasch. Die neue Eindringlichkeit, mit der eine nationale Wählerschaft im Zeitalter des allgemeinen Männerwahlrechts angesprochen wurde, das zunehmende Tempo der Arbeit, des Reisens und der Kommunikation, die sich beschleunigende Dynamik des künstlerischen Experimentierens, das plötzliche Auftauchen von Bedrohungen am internationalen Horizont: all dies trug zu einem neuen Gefühl bei – einem der Merkmale der Moderne –, dass das Leben sich immer schneller veränderte und die Zukunft von Tag zu Tag weniger vorhersehbar wurde.

Ein letzter Punkt, der nicht zu offensichtlich ist, um erwähnt zu werden, betrifft die Tatsache, dass sich die historische Forschung zu Deutschland in der Bismarckzeit über die letzten 35 Jahre in spannende neue Richtungen bewegt hat. Im Vergleich zu historischen Interpretationen, die in den frühen 1970er Jahren vorherrschten, betonen neuere wissenschaftliche Darstellungen die Vielfalt, Dynamik und Paradoxe der deutschen Entwicklung unter Bismarck, ohne jedoch aus den Augen zu verlieren, was sich zwischen 1871 und 1890 nicht veränderte. In den folgenden sieben Kapiteln wird dieser historiographische Zusammenhang in vielen der einleitenden Bemerkungen angeführt, die den Dokumenten und Bildern vorangehen. Diese Bemerkungen, ebenso wie die vorliegende Einleitung, halten die Leser dazu an, ihre eigenen Schlüsse aus den widerstreitenden Interpretationen der deutschen Geschichte zu ziehen. Dabei stellen die Leser vielleicht fest, dass diese Quellen die Bedeutung der Bismarckzeit als eine Epoche des Übergangs bestätigen – in der die Deutschen ausloteten, wie Tradition und Wandel am besten in Einklang zu bringen seien – und als einen Zeitabschnitt, dessen Erforschung für sich allein schon lohnenswert ist.


Weiterführende Literatur: Historische Überblicksdarstellungen, Interpretierende Darstellungen, Biographien

Lynn Abrams, Bismarck and the German Empire, 1871-1918, 2. bearb. Augs., London und New York, 2006 (Orig. 1995).

Volker R. Berghahn, Imperial Germany, 1871-1914: Economic, Society, Culture and Politics, 2. Aufl., Oxford und New York, 2005 (Orig. 1994); deutsche Ausg. Das Kaiserreich 1871-1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 16), 10. Aufl., Stuttgart, 2003.


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