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3. Reformation
Druckfassung

1. Augenzeugen und Familien   |   2. Regierung   |   3. Reformation   |   4. Konfessionen


B. Reformationsziele

Als Luther die anfängliche Kontroverse über den Ablasshandel entzündete, konnte niemand absehen, dass diese Angelegenheit zu dem führen würde, was „die Reformation“ genannt wird, noch erwartete Luther derartige Konsequenzen seines Handelns. Erst später enthüllte er den Moment seiner Bekehrung, das „Turmerlebnis“, während dessen er den Vers in Paulus‘ Römerbrief: „Der Gerechte wird aus dem Glauben leben“ plötzlich neu verstand. Doch erst mit Luthers Erscheinen auf dem Reichstag in Worms 1521, wo er sich weigerte, seine Ansichten zu widerrufen, wurde die Möglichkeit der Kirchenspaltung offensichtlich. Innerhalb weniger Jahre wurde der im Einklang mit Luther stehende Ruf nach einer reformierten Religion auf der Grundlage des Heils „allein durch die Bibel“, „allein durch den Glauben“, „allein durch Gnade“ [sola scriptura, sola fide, sola gratia] immer lauter. Laut dem ersten dieser Prinzipien war die Heilige Schrift die höchste christliche Autorität, die jeder Leser ohne Hilfe eines Papstes, Konzils oder Professors zu verstehen in der Lage ist. Das zweite Prinzip bezieht sich auf die Bedeutung des persönlichen Glaubens als einzigen Weg zur Erlösung, und das dritte Prinzip weist auf die göttliche Gnade als einziges Mittel der Erlösung hin. Indem sie die Beziehung des Individuums zu Gott betonten, entwerteten Luther und seine Anhänger die Rolle der Kirche als Vermittler. Im Prinzip – jedoch nicht immer in der Praxis – unterstützten sie die „Priesterschaft aller Gläubigen“.

Dies war mehr oder weniger der Zündfunken der Bewegung, die schließlich (nach 1529) als Protestantismus bekannt wurde. So zumindest wurde es behauptet, denn tatsächlich führte der Bruch mit Rom nicht zur Entstehung einer Bewegung, sondern einer Vielzahl davon. Die Spaltung begann im Winter 1521/22, als Luther sich im Versteck auf der Wartburg in Thüringen befand. Einige seiner alten Verbündeten in Wittenberg, der sächsischen Universitätsstadt, in der er unterrichtete, begannen, radikalere Predigten gegen säkulare Gewalten und traditionelle religiöse Praktiken zu halten, darunter auch gegen Bildnisse und die Sakramente. Luther verurteilte sie und drängte, sie zum Stillschweigen zu bringen, was eine positive Wandlung in Luthers Einschätzung der Rolle weltlicher Herrscher in religiösen Angelegenheiten markierte.

Währenddessen wuchs die Vielzahl der Reformprogramme stetig. In Zürich hatte Ulrich Zwingli mit Rom gebrochen und entwickelte seine eigene Doktrin und Praktiken. Seine Interpretation der Sakramente, insbesondere seine Ablehnung der Realpräsenz Christi in Form von Brot und Wein während des Abendmahls, erzürnte Luther und stellte den Beginn der permanenten Spaltung in die lutherische und reformierte Strömung der Reformation dar. Ende der 1520er Jahre waren die doktrinären Streitigkeiten zwischen Luther und Zwingli und deren Anhängern so weit gelangt, dass sie eine ernsthafte Bedrohung der protestantischen Bemühungen darstellte, ein Verteidigungsbündnis zum Schutz des neuen Glaubens zu schließen. 1529 versuchte Landgraf Philipp von Hessen den Streit zu schlichten, indem er die protestantischen Wortführer ins Marburger Schloss einlud, in der Hoffnung, einen Kompromiss finden zu können. Das Religionsgespräch verfehlte sein Ziel jedoch, und Luther und Zwingli reisten verbitterter als zuvor ab. Diese Spaltung schadete dem Ansehen und der moralischen Autorität der Protestanten, denn sie zeigte, dass diejenigen, welche sich auf das Prinzip der sola scriptura beriefen, sich über den Inhalt der Heiligen Schrift keineswegs einig waren. Allerdings beeinträchtigte die Spaltung die Kraft des von den protestantischen Fürsten und Städten 1531 gegründeten Verteidigungsbündnisses kaum, da es ihnen gelang, die Schweizer Städte auszuschließen sowie die Unterstützung Zwinglis in Straßburg, Augsburg und einigen kleineren Städten einzudämmen.

Nach der Mitte der 1520er Jahre wurde die protestantische Bewegung zudem durch das Entstehen und die Hartnäckigkeit einzelner kleiner Gruppen behindert, die sich zu heterodoxen Gemeinschaften kristallisierten. In der Schweiz lehnten ehemalige Anhänger Zwinglis die Kindstaufe als unbiblisch ab und begannen, die Gläubigentaufe als Zeichen wahrer Reue und Bekehrung zu fordern. Ihre Gegner bezeichneten sie deshalb als Wiedertäufer. Ungefähr zur gleichen Zeit kam es im Großteil der südlichen und zentralen Gebiete des Reiches zu weitläufigen Bauernaufständen. Die Verbindung zwischen dem Auftreten der Täuferbewegung in Mitteldeutschland und den Forderungen der Bauern sowie deren Niederschlagung wird kontrovers diskutiert. Es gab eine Überschneidung beider Bewegungen, und die Niederlage der Bauern beeinflusste die Täufer dahingehend, den Pazifismus zu einem ihrer zentralen Grundsätze zu machen. Doch war die Entstehung der Täuferbewegung keinesfalls lediglich ein Nebenerzeugnis des Bauernkrieges, vielmehr entstand die Bewegung aus den gleichen Impulsen, die zu den anfänglichen Bemühungen einer Kirchenreform allgemein geführt hatten. Sie zog viele an, die Luthers Anschuldigungen gegen die Unsittlichkeit und Heuchelei der alten Kirche zustimmten, doch letztlich an den Protestanten die gleiche Kritik übten. Schließlich lehnten sie die örtlichen protestantischen Kirchen als kaum besser als die alten ab. Es gibt Belege, zum Beispiel aus Hessen, dafür, dass dies der Hauptgrund für die Anziehungskraft der separatistischen Täuferbewegung war.


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