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1. Augenzeugen und Familien
Druckfassung

1. Augenzeugen und Familien   |   2. Regierung   |   3. Reformation   |   4. Konfessionen


B. Ehe und Familie

Die grundlegende gesellschaftliche Einheit der deutschen (und europäischen) Gesellschaft der Zeit war der monogame sexuell exklusive Haushalt eines erwachsenen Paares, ihrer Kinder und Bediensteten. Da sowohl Männer als auch Frauen erst heiraten durften, wenn sie ein gewisses Maß an finanzieller Sicherheit aufzuweisen hatten, war das Durchschnittsalter bei der erstmaligen Eheschließung relativ hoch (Mitte bis Ende zwanzig) und ein beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung blieb unverheiratet. Im Gegensatz zu Südeuropa waren die Eheleute normalerweise etwa gleichen Alters, und offensichtliche Abweichungen von dieser Norm konnten zur Ursache von Spott und Kritik werden.

Der Ehemann war zwar rechtlich das Haupt der intakten Familie, doch spielten Frauen eine lebenswichtige Rolle in der Organisation und Überwachung sowohl häuslicher als auch geschäftlicher Vorgänge. In der Schicht der städtischen Handwerker führten Frauen den Haushalt und übten häufig auch ein Handwerk aus, entweder das ihres Mannes oder ein anderes, oder vermarkteten die Handwerkserzeugnisse ihres Mannes. An einigen Orten war es Frauen gestattet, die Leitung der Werkstatt und Angestellten ihres Mannes zu übernehmen, wenn dieser stab. Dieses Privileg förderte die Wiederverheiratung innerhalb des gleichen Handwerks.

Auf dem Land waren die Frauen ebenfalls für Haushalt und Kinder verantwortlich. Ihnen oblag ebenfalls die Bewirtschaftung des Gartens sowie die Verarbeitung oder Vermarktung von dessen Erträgen. Zur Erntezeit arbeiteten sie gemeinsam mit den Männern auf dem Feld. Saisonale Feiern und Dorffeste gaben Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter die Gelegenheit, sich kennenzulernen und boten Abwechslung von der Eintönigkeit des Alltagslebens. Städtische Künstler idealisierten das dörfliche Leben, indem sie Bauern als lebensfreudig und sorglos darstellten, in (vielleicht bewusstem) Kontrast zu den eher zurückgenommenen wohlhabenden Bürgern und Adligen. Tatsächlich unterlagen die Geschlechterbeziehungen strengen Verhaltensregeln, sowohl innerhalb als auch zwischen den sozialen Schichten.

Leider entstand der Großteil der erhaltenen Dokumente zu den ehelichen Beziehungen unter außergewöhnlichen Bedingungen, gewöhnlich wenn ein Paar räumlich getrennt war. Im Fall Balthasar und Magdalena Paumgartners machte es das Familiengeschäft notwendig, dass der Ehemann lange Geschäftsreisen nach Italien und zu Märkten in anderen deutschen Gebieten unternahm. Ebenso war Martin Luthers häufige Abwesenheit der Anlass für dessen Korrespondenz mit seiner Frau Katharina. Beide Briefwechsel sind wegen der spezifischen Information, die sie über bekannte Persönlichkeiten und deren Beziehungen liefern, interessant. Zudem sind sie aufgrund der Einblicke, die sie in zwei Ehen des 16. Jahrhunderts geben, von großem Wert. Die Briefe verdeutlichen das Maß, in dem die Ehemänner den Beitrag ihrer Frauen zum Lebensunterhalt der Familie schätzten und sie vermitteln einen Eindruck der mit der Zeit gereiften ehelichen Beziehungen. In den Briefen der Paumgartners können wir die Entwicklung ihrer Beziehung von deren Verlobung über „sechzehn Jahre guter und schlechter Zeiten“ hinweg nachverfolgen. Martin Luther war während seiner einundzwanzigjährigen Ehe oft von Katharina getrennt und starb schließlich 1546 auf einer seiner Reisen. Seinen letzten Brief an sie schrieb er nur wenige Tage zuvor. In zwei der hier miteingeschlossenen Briefe gibt Luther außerdem einen Einblick in die Beziehung zu seinen Eltern.

Das Idealbild der Ehe entwickelte sich unter dem Einfluss der protestantischen Reformen erheblich. In deren neuen Kirchen galt die Ehe nicht als Sakrament, der Klerus wurde zur Eheschließung angehalten, und das Zölibat wurde nicht nur abgelehnt, sondern als eine der schadhaftesten falschen Lehren der römisch-katholischen Kirche verurteilt. Selbst wenn die Verneinung der sakramentalen Natur der Ehe sie zu entwerten schien, führte die Abschaffung des Zölibats doch dazu, die Ehe für den Großteil der Bevölkerung zum einzigen gesellschaftlichen Ideal zu erheben. (Zwar konnten die Protestanten nicht abstreiten, dass Paulus das Zölibat für diejenigen gepriesen hatte, welche zur Enthaltung fähig waren, doch wiesen sie darauf hin, dass die offensichtliche Unfähigkeit des Klerus hierzu Beweis genug sei, dass das Zölibat nur für wenige Auserwählte geeignet sei.) Während der Reformation wurden strengere Regeln über die Eheschließung erlassen und deren Einhaltung überwacht, zuvor war dies nie eine rein kirchliche Angelegenheit gewesen. Das mittelalterliche kanonische Recht hatte festgelegt, dass eine Ehe gültig war, wenn beide Partner das Eheversprechen ausgetauscht hatten und die Ehe körperlich vollzogen wurde. Die Reformer des 16. Jahrhunderts gingen gegen heimliche Eheschließungen vor und forderten, dass das Eheversprechen öffentlich zu geben sei sowie, dass ausreichend Zeit zwischen der Bekanntgabe der Verlobung und der Hochzeit liegen müsse, damit festgestellt werden könne, ob beide Parteien tatsächlich heiraten durften. Um diese Ideale entstand eine eigene Literatur- und Kunstrichtung, und obwohl einige dieser Werke humorvolle Satiren waren, stellen sie dennoch wertvolles Quellenmaterial dar.

Es bestand die Erwartung, dass Ehen Kinder hervorbringen, doch unterlag die Fruchtbarkeit gewissen beabsichtigten und unbeabsichtigten Einschränkungen. Frauen heirateten relativ spät (mit Mitte zwanzig) und stillten ihre Kinder, was die Fruchtbarkeit einschränkte. Dasselbe gilt für Zeiten der Unterernährung und harter körperlicher Arbeit. Die Fähigkeit der Bevölkerung, einen durch Epidemien oder Krieg entstandenen Bevölkerungsschwund rasch auszugleichen, legt außerdem nahe, dass Ehepaare zu anderen Zeiten eine rudimentäre Form der Verhütung praktizierten. Frauen brachten im Lauf ihres Lebens durchschnittlich vier bis sechs Kinder zur Welt, und angesichts der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit stand es vielen Paaren bevor, die Hälfte ihrer Kinder sterben zu sehen. Die Paumgartners waren untröstlich über den Tod ihres einzigen Kindes 1592, und auch die Luthers verloren zwei ihrer sechs Kinder sehr früh.

Obwohl die hohe Rate der Säuglingssterblichkeit – sowie die hohe Sterberate allgemein – sicherlich das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern beeinflusste, zeugen die wenigen erhaltenen Berichte von starkem persönlichen Interesse der Eltern an ihren Kindern sowie von großer Zuneigung. Ebenso wie über die Ehe gab es auch ein Genre der Volksliteratur, das der Kindeserziehung gewidmet war – und teilweise aus heutiger Sicht recht grausam klingt. Insgesamt gibt es kaum verlässliche Anhaltspunkte für die gängige moderne Vorstellung, dass die hohe Sterblichkeitsrate und andere Faktoren zu früheren Zeiten die Entstehung enger emotionaler Bindungen zwischen Eltern und Kindern verhinderte.


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