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4. Die Gesellschaftsordnung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Das deutsche Bürgertum umfasste wohlhabende Kaufleute, die sich oft im Groß- oder Fernhandel betätigten. Zahlreicher waren die Handwerksmeister, bei denen es sich um verheiratete, werkstattbesitzende Arbeitgeber von Gesellen und Lehrlingen handelte. Die Handwerksberufe, deren Anzahl in den größeren Städten womöglich 100 überschritt, waren in handwerkseigenen Zünften organisiert – beispielsweise Zimmermänner und Schuster. Diese übten von den herrschenden Fürsten und Stadtregierungen verliehene Befugnisse aus, die Anzahl der Meister in einer bestimmten Stadt zu regeln – denn die Handwerksberufe waren meist städtisch. Dies diente dazu, ihnen allesamt einen als gesellschaftlich angemessen betrachteten Lebensunterhalt zu ermöglichen, und zwar durch die Bedienung eines Marktes, der monopolistisch geschlossenen war gegenüber „fremden“ Handwerkern, also jenen aus anderen Städten. Ebenso bestimmten die Zünfte Richtlinien für die Fertigung (einschließlich der erlaubten Techniken), regulierten Preise und legten die Löhne in Bargeld sowie Kost und Logis fest, welche die Meister ihren unverheirateten Arbeitern schuldeten (obwohl viele Gesellen unabhängig in gemieteten Unterkünften wohnten).

Wie die Kaufleute stimmten auch die Zunftangehörigen in den Stadtregierungen ab und amtierten unter Umständen als Bürgermeister oder Stadträte. Ebenfalls bedeutend unter den Bürgern, wenn auch nicht so zahlreich, waren die akademisch gebildeten Berufsgruppen: Rechtsanwälte und Richter, Ärzte, Stadtbeamte, gelehrte Schulmeister und, besonders in den protestantischen Gebieten, verheiratete, an der Universität ausgebildete, häufig wissenschaftlich oder schriftstellerisch tätige Geistliche. Der Aufstieg des Absolutismus ließ die Reihen der bürgerlichen Staatsdiener anschwellen. Darunter befanden sich viele Absolventen der neu gegründeten oder vergrößerten Universitäten, die sich auf die Kameralwissenschaft spezialisierten, die im Deutschland des 18. Jahrhunderts florierte. Sie bot eine Ausbildung in der protektionistisch orientierten, Edelmetall hortenden „merkantilistischen“ Wirtschaftslehre. Diese Doktrin befürwortete staatlichen Aktivismus bei der Gründung monopolitischer Gemeinschaftsunternehmen von Regierungen und Privatunternehmern (wobei zu Letzteren häufig die so genannten „Hofjuden“ zählten), um die militärische Versorgung und die Herstellung von Waffen und Uniformen auszubauen.

Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Anwachsen des Staates und der privaten Marktwirtschaft sowohl einem Besitzbürgertum als auch einem Bildungsbürgertum zu Bedeutung verholfen. Sie existierten eher symbiotisch als antagonistisch mit dem absolutistischen Staat und dem Adel, die beide in kaufmännischen, rechtlichen und auch kulturellen Angelegenheiten auf das bürgerliche Talent angewiesen waren und dafür oftmals großzügig bezahlten. Doch „Feudalprivilegien“ stellten in den Augen der Bürger zunehmend ein rotes Tuch dar, besonders wenn es sich dabei um adlige Monopole auf den Besitz großer Grundstücke (Feudalherrschaften) oder auf hohe Ämter im Staatsdienst handelte, einschließlich des Diplomaten- und Offizierskorps.

Die militärischen Niederlagen und andere Demütigungen, welche die deutschen Territorialherrscher und ihre adligen Gefolgsleute durch die Franzosen nach 1792 und besonders nach 1799 zur Zeit Napoleons hinnehmen mussten, ermutigten Kritiker aus der Mittelschicht, ihre Stimme zu erheben. Indem sie Anregungen aus den Weltanschauungen des Liberalismus und des Nationalismus aufnahmen, begannen sie Gleichheit vor dem Gesetz zu verlangen, eine dem Talent offen stehende Berufslaufbahn, eine konstitutionelle Regierungsform, ein Ende der fürstlichen Pressezensur, intellektuelle und akademische Freiheit und die Schaffung eines geeinten Deutschlands, und sei es nur durch eine Föderation bestehender Staaten.

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