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4. Die Gesellschaftsordnung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


In West- und Süddeutschland ging Herrschaft kaum mit großflächigen Gutsbetrieben nach ostelbischem Vorbild einher. Grundherrschaftliche Amtsträger beschränkten sich allgemein auf die Erhebung von Geldzahlungen oder Naturalabgaben von untertänigen Dorfbewohnern, deren bisweilen sklavenhafter Rechtsstatus zusätzliche Erhebungen rechtfertigte, insbesondere Erbschaftssteuern. Nur entlang der Nordseeküste existierte in bedeutender und dichter Anzahl eine freie deutsche Bauernschaft, unabhängig von der Grundherrschaft.

Entscheidend für die landsässigen Dorfbewohner waren weniger die Umstände der Herrschaft und die rechtliche Unterwerfung als vielmehr die Produktivität ihres Landbesitzes sowie die kombinierte Last der Renten, Steuern und – nicht nur in katholischen Gebieten – der Zehnten. Unterwerfung und Leibeigenschaft mögen Bauern gegen ihren Willen festgehalten haben, doch häufiger war es schlicht das Ziel der Dorfbewohner, begehrte Bauernhöfe in ihren Geburtsregionen zu besetzen und von ihnen nach ihren eigenen Maßstäben gut zu leben. In West- und Süddeutschland stand dem das Bevölkerungswachstum entgegen und die Zersplitterung der Kleinbauernhöfe durch Realteilung (d.h. die Teilung der Bauernhöfe unter allen Erben). Hier nahm im Laufe der Zeit die Zahl der wirtschaftlich nur bedingt tragfähigen Kleinbauernhöfe zu, während ein Heer von landlosen Häuslern und Pächtern entstand, das auf Tagelohnwerk und saisonale Heimarbeit angewiesen war.

Im ostelbischen Deutschland hing das System des Großgrundbesitzes – eine Form der „kommerzialisierten Gutswirtschaft“ – für die Deckung seines Arbeitsbedarfs von Vollbauern und ihren Pferdestärken ab. Daher blieb, während auch hier eine langfristige Zunahme von Kleinbauern und Kätnern eintrat, der Kern der zahlreichen Bauernhöfe intakt. Für ihre Besitzer bestand die große Herausforderung darin, die Last der Feudalrenten und besonders der wöchentlichen Arbeitsdienste zu minimieren. Diese gerieten zum endlosen Stein des Anstoßes, sowohl auf den Feldern und Gutshöfen als auch vor den fürstlichen Appellationsgerichten.

Das Wohlergehen bäuerlicher Familien hing weniger von ihrer rechtlichen Stellung ab als vielmehr von den materiellen Besitzungen, besonders in Form von Land, und den von ihnen zu bezahlenden Renten. Der Wohlstand der Bauern zeigte sich in der Ernährung, Bekleidung, den Mitgiften und Heiratsanteilen, die Eltern auf die vom Gehöft weg heiratenden Kinder übertrugen, und in den Vorkehrungen für den Ruhestand der Alten. Ein stabiles Niveau bäuerlichen Auskommens war ebenso gut in Ostpreußen und Brandenburg wie in Bayern oder im Rheinland zu finden. Den protestantischen Freibauern der Nordseeküste, sicher vor Feudalrenten und Zehnten, ging es insgesamt am allerbesten (wenngleich ihre Zahl nicht sehr groß war).

Praktisch jedes Dorf hatte seine armutsgefährdete landarme oder landlose Randbevölkerung, deren Umfang zunahm, besonders als die Einwohnerzahlen nach 1763 rasch anstiegen. Denn während die Erholung von den Verlusten durch den Dreißigjährigen Krieg sich bis in die 1720er Jahre hinzog, begann sich eine oder zwei Generationen später demografischer Druck aufzubauen, besonders in Regionen mit Erbteilung. Wenngleich vormoderne Statistiken aus einer Reihe von grundverschiedenen Quellen erstellt werden müssen, und während das Ausmaß der Verluste im großen Krieg des 17. Jahrhunderts kontrovers ist, herrscht breiter Konsens über die folgenden Schätzungen der Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches (diese Zahlen betreffen vorwiegend die deutschen Bewohner, beziehen jedoch weder die deutschen Gemeinden östlich der Reichsgrenzen ein noch nehmen sie die tschechischsprachigen Einwohner der böhmisch-mährischen Territorien Österreichs aus): 1618 – 21 Millionen; 1650 – 16 Millionen; 1700 – 21 Millionen; 1750 – 23 Millionen; 1800 – 31 Millionen. Bis 1815 und in einigen Gebieten deutlich früher machten die sich selbst versorgenden Bauernfamilien im Durchschnitt nur eine Minderheit der Dorfbevölkerung aus (vielleicht annähernd ein Drittel). Neben ihnen standen als etwa gleich große Gruppen die am Existenzminimum lebenden Ackerbauern und landlosen Dorfbewohner.

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