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2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Das Heilige Römische Reich konnte sich nicht zu einem modernen Staat entwickeln. Es war vielmehr ein multipolarer, dezentralisierter nationaler Staatenbund, der in sich anfangs unentwickelte, doch zunehmend authentisch deutsche Staaten neben einer Masse von militärisch immer wehrloseren Herrschaften und Herrschaftsstrukturen (vorwiegend Reichsstädte und -ritter sowie katholische geistliche Territorien) beherbergte. Diese existierten sozusagen symbiotisch neben dem Reich und fielen in den Jahren 1803-1806 zusammen mit ihm unter den Hammerschlägen Napoleons für immer. Die tausendjährige Geschichte des Reiches endete schließlich, da nach 1648 ein Konsens der europäischen Großmächte bestand, dass eine Zersplitterung der Herrschaft im deutschen Mitteleuropa ihren eigenen Interessen diente. Doch das europäische Reich Napoleons, das die Französische Revolution hervorbrachte, ließ, so kurzlebig es auch war, diese Perspektive als antiquiert erscheinen (ohne freilich die sich daraus ergebende „deutsche Frage“ zu lösen).

Viele deutsche Nationalisten der jüngeren Zeit haben das Reich dafür verurteilt, dass es ihm nicht gelang, Macht zu zentralisieren und auf dem Weg der nationalen Einheit voranzuschreiten. Die Geschichtsschreibung nach 1945 hat eine weit tolerantere Sicht vertreten, die günstigen Lebensbedingungen unter den unzähligen Duodezfürsten hervorgehoben und das Reich als Vorläufer der heutigen Europäischen Union begriffen, die ebenfalls eine Ansammlung unabhängiger und dennoch verbündeter Staaten ist. Im Heiligen Römischen Reich brachten die Höfe von über 300 Herrschern eine entsprechende Anzahl fürstlicher Residenzen hervor, mit Orchestern, Theatern, Bibliotheken, Museen, Adelskollegien und Gelehrtenakademien. Solche Bedingungen machten sich kulturell bezahlt – was sich bis heute an Deutschlands reicher Musik- und Theaterszene zeigt – und erfreulicherweise auch die Intelligenz beschäftigte. Im späten 18. Jahrhundert kam in den Schriften einiger einflussreicher Publizisten ein ungewohnter Reichspatriotismus zum Ausdruck. Sie rühmten eine plötzlich verbesserte Rechtsprechung auf Reichsebene und die Rolle des Reiches bei der Wahrung deutscher „Freiheiten“ gegen den Aufstieg der „tyrannischen“ Staatsmacht in dem einen oder anderen Territorialfürstentum. Andererseits erfreute sich gleichzeitig Friedrich II. („der Große“), der mächtige König des absolutistischen Preußen, großer Beliebtheit bei anderen (und sogar denselben) Aufklärungsliteraten.

Dort wo eine Unterdrückung von Untertanen stattfand, sei es in einer einer städtischen Republik, unter einem Erzbischof oder einem quasi-souveränen Fürsten, war dies ebenso wenig tragbar wie unter einer Handvoll mächtiger deutscher Staaten. Vorwürfe des „Despotismus“ waren normalerweise rhetorische Hiebe, wenngleich klassenbedingte und politische Ungerechtigkeit in Deutschland ebenso bekannt war wie in Frankreich und Großbritannien. Und dennoch stand jedem Deutschen, selbst den leibeigenen Bauern, allerorts eine Berufung vor Gericht offen. Das Reich bot Raum für ein multikonfessionelles Leben in einem Europa, das ansonsten vorwiegend einzelne, etablierte christliche Religionsgemeinschaften stützte. Es existierte getreu eines Konservatismus, der all jenen zugute kam, die von der Erhaltung des Status quo profitierten. Militärische Aggression dagegen begünstigte das Reich nicht. Es hielt in der deutschen Vorstellungskraft ein gewisses Gefühl nationaler Identität und Würde wach, wenngleich sich dies immer weiter vom Alltagsleben der einfachen Leute entfernte.

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