GHDI logo

V. Rassenpolitik
Druckfassung

Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Himmlers widersprüchliche Impulse, zu dokumentieren und zu verbergen, waren in seiner berühmten Rede vor SS-Gruppenführern in Posen vom 4. Oktober 1943 offensichtlich. Nach ungefähr zwei Dritteln seiner Rede (die über drei Stunden dauerte) sprach Himmler das Thema der Endlösung an – etwas, das die SS niemals öffentlich besprechen durfte. Er ging außerdem noch einen Schritt weiter und machte eine Tonbandaufnahme der Rede. Die Aufnahme hat den Krieg überstanden.

Ein anderes belastendes Dokument war für einige Zeit verschollen, jetzt ist es Historikern jedoch zugänglich. Am 11. Oktober 1943 übermittelte Ernst Kaltenbrunner, Heydrichs Nachfolger als Leiter des RSHA, über Funk eine verschlüsselte Nachricht mit einem Befehl in spitzem Ton an SS-Sturmbannführer Herbert Kappler, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom. Kaltenbrunner befahl Kappler, trotz der politischen und logistischen Schwierigkeiten, vor denen letzterer zuvor gewarnt hatte, die Deportation der Juden aus Rom durchzuführen. Der Befehl ist erhalten, da der britische Geheimdienst ihn abfing und entschlüsselte. Die entschlüsselte Nachricht wurde jedoch erst im Jahr 2000 freigegeben. Sie wurde während der Nürnberger Prozesse nicht als Beweismaterial gegen Kaltenbrunner genutzt. (Er wurde dennoch zum Tod verurteilt und gehängt.)

Die Maßnahmen der Nazis, um die jüdische Rasse in Europa zu vernichten, führten zu entgegenwirkenden Bemühungen der Juden, zu dokumentieren, was ihnen angetan wurde. Einer der bekanntesten und detailliertesten Berichte wurde von zwei slowakischen Juden erstellt, Alfred Wetzler und Rudolf Vrba, die am 7. April 1944 aus Auschwitz-Birkenau geflohen waren. Während sie sich in Ungarn versteckt hielten, verfassten sie einen ausführlichen Bericht, in dem sie beschrieben, was sie während fast zwei Jahren der Gefangenschaft erlebt hatten. Der Bericht erreichte bereits im Juni 1944 amerikanische Behörden in der Schweiz und wurde mit einiger Verzögerung vom War Refugee Board, einer amerikanischen Regierungsbehörde, veröffentlicht (23). Obwohl das Dokument einige sachliche Fehler enthält, stellt es eine beeindruckende Leistung der Erinnerung und Zeugenschaft dar (24).

Zahlreiche Faktoren machen es schwierig, zu rekonstruieren, wie viele Menschen in Auschwitz ermordet wurden: z.B. wurden die meisten Juden in die Gaskammern geschickt, ohne dass man ihnen vorher eine Nummer zugeteilt hatte, die meisten Leichen wurden in den Krematorien verbrannt und der Großteil der Lagerunterlagen wurde zerstört. Die Schätzung Wetzlers und Vrbas, dass ungefähr 1.765.000 Juden in Birkenau, einem von sechs größeren Vernichtungslagern, umgebracht wurden, wird heute von Historikern als zu hoch angesehen. Sie war allerdings konservativ im Vergleich mit der Zahl von 2.5 Millionen, die Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss (1900-1947) nach dem Krieg zu Protokoll gab.

Das Massaker an den Juden, den Roma und zahlreichen sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz-Birkenau stellte nur eine Dimension der SS-Politik im Auschwitz-Komplex dar. Historiker haben in jüngerer Zeit die Rolle Auschwitz' bei der Versorgung deutscher Firmen mit Zwangsarbeitern aufgedeckt. Sie haben ebenfalls auf die Bedeutung der Bemühungen der SS hingewiesen, dort einen Vorposten der deutschen Ostbesiedlung am Rand des erweiterten Reiches zu gründen (25). Auschwitz sollte zum Symbol einer schönen neuen, deutschen Welt werden. Stattdessen ist es zur Metapher für das technisch ausgereifte Böse geworden.



(23) Vgl. David S. Wyman, The Abandonment of the Jews: America and the Holocaust, 1941-1945. New York: Pantheon, 1984, S. 289, 324 (dt. David S. Wyman, Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, übersetzt von Karl Heinz Siber. Ismaning bei München: Hueber, 1986, S. 401, 446).
(24) Die abgedruckte Kopie des Berichts entspricht derjenigen, die dem Office of Strategic Services im April 1945 übergeben (und von diesem kommentiert) wurde.
(25) Peter Hayes, Industry and Ideology: IG Farben in the Nazi Era. New York: Cambridge University Press, 2000; Deborah Dwork und Robert Jan van Pelt, Auschwitz: Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien. München: ADD, 2000; Sybille Steinbacher, “Musterstadt” Auschwitz: Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien. München: ADD, 2000.

Seite 22

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite