GHDI logo

V. Rassenpolitik
Druckfassung

Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Nach der deutschen Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941 begannen die Nazis, etliche Juden (sowie Roma, kommunistische Funktionäre und andere) zu ermorden. Einsatzgruppen (unterteilt in Einsatzkommandos), Bataillone der Ordnungspolizei, Regimenter der Waffen-SS sowie vor Ort rekrutierte nicht-deutsche Hilfstruppen waren allesamt an den systematischen Erschießungen der heimischen Juden beteiligt. Im Herbst des Jahres begannen schließlich die Deportationen von Juden nach Osten. 1941 und Anfang 1942 deportierten die Nazis beispielsweise tausende deutscher und österreichischer Juden in das Ghetto im lettischen Riga. Am 30. November 1941 ermordeten Truppen unter dem Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln (1895-1946) gemeinsam mit lettischen Hilfstruppen unter der Führung von Viktor Arajs (1910-1988) systematisch ungefähr 14.000-15.000 Juden außerhalb der Stadt Riga. Eine Woche später war fast die gesamte übrige Ghettobevölkerung ermordet.

Walter Bruns, ein Generalmajor der deutschen Wehrmacht, hatte von den Plänen zur Massenerschießung lettischer und deutscher Juden erfahren und versucht, verschiedene deutsche Behörden zu überzeugen, deren Umsetzung zu verhindern. Nachdem er gegen Ende des Krieges von den Briten gefangen genommen worden war, gehörte Bruns zu den zahlreichen deutschen Kriegsgefangenen, deren Gespräche heimlich aufgezeichnet wurden; die britischen Aufzeichnungen dieser Gespräche, die vor einigen Jahren freigegeben wurden, bieten einen reichen Fundus an freimütig geäußerten Informationen über die Einstellung deutscher Offiziere, Soldaten und der SS. Am 25. April 1945 sprach Bruns privat und einigermaßen erregt mit einigen Mitgefangenen über die Ereignisse in Riga 1941. Seine Bemerkungen ergänzen das vorhandene Beweismaterial dafür, dass Admiral Wilhelm Canaris (1887-1945), Chef des Amtes Ausland/Abwehr im OKW, direkt mit Hitler über den Mord an den Juden gesprochen hatte, jedoch ohne Auswirkungen auf die grundsätzliche Politik der Nazis (20). Die Schwierigkeiten, solche Erschießungen geheim zu halten, stellten einen von vielen Faktoren dar, die Himmler dazu anleiteten, zu einem Mordsystem überzugehen, das auf Lagern basierte.

Viele der auf hoher Ebene abgehaltenen Diskussionen darüber, was die NS-Führung beschönigend die „Endlösung der Judenfrage“ nannte, wurden schlecht dokumentiert – und das mit Absicht. Doch gibt es erhaltene Protokolle einer – heute berüchtigten – Sitzung hochrangiger Regierungs-, Partei- und SS-Funktionäre vom 20. Januar 1942. Die Wannseekonferenz, benannt nach dem Berliner Villenviertel, wo sie stattfand, scheint aus drei wesentlichen Gründen einberufen worden zu sein: 1) um die Anerkennung der Autorität der SS bezüglich der „Judenfrage“ sicherzustellen; 2) um die Vorgehensweise der SS einer Reihe anderer Behörden zu eröffnen, deren Kooperation für die massenhaften Deportationen und Morde gebraucht wurde; und 3) um potenziell schwierige Nuancen des Vorgehens hinsichtlich der Mischlinge und Juden in gemischten Ehen auszuräumen. Lediglich in diesem letzten Punkt gab es nennenswerte Kompromissbereitschaft.

Bei dem hier vorliegenden Protokoll der Sitzung handelt es sich nicht um eine genaue Niederschrift. Adolf Eichmann sagte später aus, er habe auf Drängen Heydrichs einige der deutlicheren Passagen über den Massenmord streichen müssen. Der Begriff „Evakuierung“ erscheint häufig als Euphemismus für Massenmord. Eine weitere offensichtliche Streichung oder nicht aufgezeichnete Einzelheit war Heydrichs Aussage, Hitler habe ihn mit dieser Aufgabe beauftragt (21). Doch selbst die redigierte Zusammenfassung enthüllt den Umfang der Zielsetzung der Nazis: mehr als 11 Millionen Juden zu ermorden, einschließlich derer in England, Irland, Finnland, Portugal, Spanien und der Schweiz. Die Tatsache, dass die Statistiken über die jüdische Bevölkerung Europas überhöht waren, verdeutlicht, dass die NS-Funktionäre in jeder Ecke Juden vermuteten. Ein Jahr später, im Januar 1943, bat Himmler den Inspekteur für Statistik beim Reichsführer SS, Dr. Richard Korherr, einen detaillierten Bericht über das Fortschreiten der Endlösung anzufertigen. Korherr benutzte weiterhin den Begriff „Evakuierung“ als teilweise Verschleierung des NS-Genozid-Programms; auf Himmlers Anweisung hin strich er auch einen weiteren Begriff, „Sonderbehandlung“, aus seinem Entwurf (22).



(20) Vgl. Gerald Fleming, Hitler und die Endlösung, erg. Ausg. Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein, 1987.
(21) Fleming, Hitler und die Endlösung, Anm. 91.
(22) Richard Breitman, The Architect of Genocide: Himmler and the Final Solution. New York: Knopf, 1991, S. 242. (dt.: Richard Breitman, Der Architekt der „Endlösung”. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, übersetzt von Karl und Heidi Nicolai. Paderborn u.a.: Schöningh, 1996, S. 318).

Seite 21

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite