GHDI logo

4. Deutschland in der Welt
Druckfassung

Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Die Bundesrepublik hat seit der Vereinigung in gewohnter Manier die Initiativen der EU unterstützt und diese in vielen Bereichen, wie bei der Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa und dem Engagement in Südosteuropa, lanciert (25). Insgesamt gilt nach wie vor, dass sich Deutschlands Bürger mehrheitlich mit Europa identifizieren (26). Allen voreiligen Todesmeldungen zum Trotz besteht auch nach der territorialen Ausweitung der EU das Tandem Frankreich-Deutschland als Motor der EU weiter. Das Tempo der europäischen Integrationspolitik und ihre räumliche Ausweitung, Streitigkeiten um Einzelfragen und Sorge um deutsche Interessen haben bei der deutschen Bevölkerung, ähnlich wie bei den Bürgern in anderen europäischen Staaten, eine größere Skepsis gegenüber der EU hervorgerufen. Diese Skepsis ist jedoch mit grundsätzlicher Akzeptanz der Entscheidungen verbunden, auch wenn sie, wie im Falle der Einführung des Euro, der gemeinsamen europäischen Währung, unbeliebt waren. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon (2009) hat zumindest gesetzlich eine Ausweitung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in EU-Angelegenheiten veranlasst. Kritiker bemängelten die Stärkung des Nationalstaates, die dadurch zum Ausdruck kam, während Befürworter begrüßten, dass der europäischen Integration deutlichere Grenzen gesetzt wurden. Mit der Eurokrise des Jahres 2010 hat die Skepsis gegenüber einer von den politischen Eliten forcierten Europäischen Union neue Nahrung erhalten.

Veränderungen der deutschen Außenpolitik sind in erster Linie Reaktionen auf eine Wandlung des internationalen Umfeldes und nicht das Ergebnis gezielter, neuer Strategien, wobei die Meinungen auseinander gehen, ob es sich dabei lediglich um Anpassungen oder bereits um Neuausrichtungen deutscher Außen- und Europapolitik handelt (27). Deutschland ist wieder Mittelmacht und versteht sich auch als „Mitführungsmacht“. Die außenpolitische Maxime der Selbstbeschränkung, die die alte Bundesrepublik kennzeichnete, ist weiter vorherrschend, doch wird sie vermehrt um Zeichen der Selbstbehauptung ergänzt. Diese Politik wurde insbesondere von Bundeskanzler Gerhard Schröder lanciert, der deutsche Interessen auf internationaler Bühne offener und selbstbewusster artikulierte als noch seine Amtsvorgänger (28). Seine vehemente Ablehnung einer deutschen Beteiligung am Krieg gegen den Irak und dessen gelungene Funktionalisierung im Wahlkampf des Herbstes 2002 führte zu beträchtlichen transatlantischen Irritationen. Allerdings lag beiden Seiten an Schadensbegrenzung, der durch den Regierungswechsel in Deutschland im Jahre 2005 von Gerhard Schröder zu Angela Merkel und dann drei Jahre später in den USA von George W. Bush zu Barack Obama beschleunigt wurde. Der weltpolitische Einfluss der Bundesrepublik bleibt im Unterschied zu ihrer europäischen Rolle immer noch begrenzt. Deutschlands Bestrebungen nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen scheiterten nicht zuletzt im Gefolge der transatlantischen Störungen am Widerstand der USA. Andererseits wird Deutschland immer mehr in weltpolitischen Fragen, so zum Beispiel im Konflikt mit Iran, konsultiert und in Entscheidungen mit einbezogen. Die Austarierung der deutschen Außenpolitik bleibt im Gange (29).



(25) Zu verschiedenen Aspekten der Rolle Deutschlands in Europa siehe das Sonderheft der Zeitschrift German Politics (14. Jg., Nr. 3, September 2005) From Modell Deutschland to Model Europa: Europe in Germany and Germany in Europe sowie Kenneth Dyson und Klaus H. Goetz, Hg., Germany, Europe and the Politics of Constraint (Oxford, 2003).
(26) Elisabeth Noelle-Neumann und Thomas Petersen, „Die Bürger in Deutschland“, in Werner Weidenfeld, Hg., Europa-Handbuch. Bd. II: Die Staatenwelt Europas. Dritte, aktualisierte und überarbeitete Auflage (Gütersloh, 2004), S. 32-51.
(27) Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, „Deutsche Leadership in der Europäischen Union? Die Europapolitik der rot-grünen Bundesregierung 1998-2002“, in dies. et al., Deutsche Europapolitik von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder (Opladen, 2002), S. 196.
(28) Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung. 1945-2000 (Stuttgart und München, 2001).
(29) Hans-Peter Schwarz, Republik ohne Kompaß. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik (Berlin, 2005). Siehe auch Regina Karp, „The New German Policy Consensus“, The Washington Quarterly, 29, 1 (Winter 2005-2006), S. 61-82.

Seite 10

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite