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2. Die Vereinigungskrise
Druckfassung

Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Die Arbeitsgesellschaft der DDR – die Erwerbstätigenquote lag mit 90 Prozent mehr als 20 Prozent über der westdeutschen – wurde durch Massenentlassungen ihrer Grundlage und damit viele ostdeutsche Bürger eines Teils ihrer Identität beraubt. Innerhalb kurzer Zeit mussten mehr als zwei Drittel der ostdeutschen Arbeitnehmer den Arbeitsplatz wechseln oder wurden in die vorzeitige Pensionierung entlassen. Vor allem Frauen waren hart betroffen; deren Beschäftigtenquote reduzierte sich von 80 Prozent auf ca. 50 Prozent (15). Bis heute anhaltende Transferzahlungen von West nach Ost in Milliardenhöhe garantieren Sozialleistungen und gewaltige Investitionen in die Infrastruktur; das wirtschaftliche Ost-West-Gefälle besteht aber weiter. Die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“, in denen eine funktionierende und wettbewerbsfähige Wirtschaft die marode Planwirtschaft der DDR ersetzen sollte, trafen nicht ein. Nicht nur Massenproteste folgten. Getragen von dem Gefühl des Umbruchs und der Unsicherheit, nahm zum Beispiel zu Beginn der neunziger Jahre die Geburtenrate in den neuen Bundesländern so rapide ab wie sonst nur nach Kriegszeiten (16). Vor allem junge Bürger aus den ländlichen Regionen Ostdeutschlands zog es in den Westen des Landes. Die Desillusionierung tat sich in politischer, sozialer und kultureller Distanz zwischen West- und Ostdeutschen kund; die Wortschöpfungen Ossi und Wessi fingen diese Entfremdung symbolhaft, wenn auch stereotypisch, ein.

Erfolg oder Scheitern der Vereinigung und der Transformation Ostdeutschlands angemessen zu beurteilen, ist schwierig. Die Prozesse waren facettenreich und die damit verbundenen Tendenzen oft gegensätzlich; schließlich variiert die Beurteilung je nach persönlicher Betroffenheit und thematischem Bezugspunkt (17). Regelmässig bejaht eine große Mehrheit der Deutschen die Richtigkeit der Entscheidung, Deutschland zu vereinigen (18). Seit Mitte der neunziger Jahre stehen Ost-West-Gegensätze bewusst nicht mehr im Zentrum der nahezu ausschließlich von westlichen Medien gelenkten öffentlichen Diskussion. Die weitgehende Ausblendung der nach wie vor bestehenden Probleme aus den Schlagzeilen hat deren potentielle politische Sprengkraft vermindert, doch deren Lösung nicht befördert. Der Aufbau Ost gehört schon lange nicht mehr zur „Chefsache“ (19). Die doppelt so hohen Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern, die stetige Migration vom Osten in den Westen und die nach wie vor notwendigen Transferleistungen von West nach Ost weisen auf weiterhin existierende Problemlagen hin. Die Feiern anlässlich des 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer waren dennoch vorwiegend von dem Gefühl geprägt, schwierige Transformationsprozesse erfolgreich gemeistert zu haben.



(15) Raj Kollmorgen, „Das Ende Ostdeutschlands? Zeiten und Perspektiven eines Forschungsgegenstandes“, Berliner Debatte Initial 14, 2 (2003), S. 12.
(16) Rainer Hufnagel, „Leere Wiegen Ost. Zum dramatischen Rückgang der Geburtenziffern in den Neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung“, in ders. und Titus Simon, Hg., Problemfall Deutsche Einheit. Interdisziplinäre Betrachtungen zu gesamtdeutschen Fragestellungen (Wiesbaden, 2004), S. 147-154; Nicholas Eberstadt, „Demographic Shocks in Eastern Germany, 1989-1993“, Europe-Asia Studies 46, 3 (1994), S. 519-33.
(17) Siehe zum Beispiel die Gegenüberstellung der gegenseitigen Positionen in Raj Kollmorgen, Ostdeutschland. Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft (Wiesbaden, 2005) und die Beiträge in Hannes Bahrmann und Christoph Links, Hg., Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – Eine Zwischenbilanz (Berlin, 2005) und den anregenden Essay von Richard Schröder, „Lob der Einheit. Richard Schröder um 3. Oktober 2006“, Der Spiegel, Nr. 40, 2006, S. 50-51.
(18) Forschungsgruppe Wahlen e.V., Hg., Politbarometer Extra – Deutsche Einheit (Mannheim, September 2004) und Politbarometer Extra – 20 Jahre Mauerfall (Mannheim, November 2009).
(19) Thomas Kralinski, „Warum der Westen den Osten braucht“, Berliner Republik, Heft 3 (2003), S. 10; Zum 15. Jahrestag des Mauerfalls: Vom gemeinsamen Anliegen zur Randnotiz – DDR, Wiedervereinigung und der Prozeß der Deutschen Einheit im Spiegel der Medien. Medien-Inhaltsanalyse 1994-2004 der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Forschungsinstituts Medien Tenor.

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