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7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Die Plattformen und Wahlprogramme dieser Parteien veranschaulichen die gegenseitige Abhängigkeit sozialer, wirtschaftlicher und politischer Fragen innerhalb ihrer jeweiligen Ideologien. Sie zeigen auch die Möglichkeiten für Koalitionsbildungen sowie die Hindernisse für eine Zusammenarbeit auf, die einige Historiker dazu veranlasst haben, von einer „Versäulung“ des Parteiensystems zu sprechen. Satirische Karikaturen (B26, B27, B28) und sorgfältig gestellte Fotografien der Parteiführer (B29, B30) lassen darauf schließen, dass die wichtigen Parteien mehr gemeinsame Werte teilten, als Historiker bisweilen annehmen, selbst wenn Parteibündnisse in einem Augenblick beliebig und im nächsten wiederum abhängig von Bismarcks Gunst erschienen.

„Politik in einer neuen Tonart“. Das Auftauchen neuer politischer Parteien und Parteigruppierungen war nicht das einzige Merkmal der entstehenden Massenpolitik in Bismarcks Deutschland. In diesem Abschnitt rückt auch die Macht der Presse ins Blickfeld, staatspolitische Fragen ins Wohnzimmer gewöhnlicher Deutscher zu transportieren (B31, B32). In dem Maße, wie die Wähler den Wahlakt als selbstverständliche Vaterlandspflicht zu akzeptieren begannen oder als das beste Mittel, Solidarität zu Klasse, Konfession, Region oder Ideologie zu äußern, stieg die Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen drastisch an – wiederum wesentlich drastischer als bei den besser erforschten Wahlen nach 1890. Bei den Reichstagswahlen von 1874, gaben etwa 5,2 Millionen Deutsche ihre Stimme ab, was eine Wahlbeteiligung von 61,2 Prozent bedeutet. Bei den Reichstagswahlen 1887 begaben sich rund 7,6 Millionen Deutsche an die Urnen. Damit betrug die Wahlbeteiligung 77,5 Prozent, was bis 1907 unerreicht blieb (D32). Ein Grund für diese Zunahme des Wählerengagements waren die Bemühungen der Reichstagsabgeordneten, die geheime Stimmabgabe sicherzustellen.

Eine derartige Absicherung war keineswegs unumstößlich (D33, D34, D35, D36, D37). Ob das Prinzip des Wahlgeheimnisses respektiert oder unterminiert wurde, hing sehr stark davon ab, wo ein Wähler lebte, wer sein Arbeitgeber war und ob die Regierung ein direktes Interesse am Ausgang einer bestimmten lokalen Kampagne zeigte. Kein Wunder, dass zeitgenössische Künstler die „ungelösten Fragen“ bildlich darstellten, die „verunsicherte Wähler“ in dieser Ära plagten (B33, B34, B35, B36). Die Wähler wurden auch zum Ziel unverantwortlicher Versprechungen und Appelle seitens radikaler Parteien. Die Antisemiten der späten 1870er und der 1880er Jahre trugen am meisten zur Verrohung der öffentlichen Meinung bei, sie hatten sehr viel Sinn für die Leichtgläubigkeit des Durchschnittswählers (D30, D31, D32). Doch alle Parteien mussten mit den Massen rechnen – und dies, wie ein Konservativer es formulierte, ob sie es wollten oder nicht und ob es ihnen angenehm war oder nicht. Das allgemeine Wahlrecht war „ihnen zu heiß unter den Füßen“ geworden, um immer noch auf die ältere und exklusivere Honoratiorenpolitik zu setzen.


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