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7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Die Maigesetze von 1873 stellten das Kernstück der Kulturkampfgesetzgebung dar. Die Spannungen zwischen Bismarck und dem Papst verschärften sich in den beiden folgenden Jahren nur noch weiter. Gegen Ende des Jahrzehnts hatte Bismarck allerdings erkannt, dass die Gegenmaßnahmen der katholischen Geistlichkeit und ihrer Kirchengemeinden seine Pläne größtenteils vereitelt hatten. Die Unzulänglichkeit der staatlichen Institutionen bei der Bekämpfung eines Drittels der Reichsbevölkerung war eindrucksvoll zu Tage getreten. Im Jahr 1878 hatte der Kanzler dann viele Gründe, den politischen Hauptvertreter der katholischen Interessen wieder auf der Regierungsseite willkommen zu heißen, d.h. die deutsche Zentrumspartei, die sich auf ein breites Spektrum kirchlicher und weltlicher Organisationen stützte (D5). Die Zentrumspartei verfügte über eine große Reichstagsfraktion, deren Abgeordnete katholische Wahlkreise vertraten. In solchen Regionen stand häufig von vornherein fest, dass der Zentrumskandidat am Wahltag den Sieg davontragen würde, nicht nur aufgrund der Konzentration von Katholiken in bestimmten Regionen Deutschlands, sondern auch wegen der tief sitzenden sozialen Antagonismen, die Protestanten und Katholiken trennten und bei Letzteren zu einem Gefühl der Benachteiligung beitrugen (siehe Kapitel 4). Zwischen 1878 und Mitte der 1880er Jahre lief sich der Kulturkampf allmählich tot (D6). Öffentlich gab Bismarck die Niederlage allerdings nie zu und der konfessionelle Friede in der wilhelminischen Zeit blieb fragil.

Bismarck verschärfte während der 1870er Jahre schrittweise die Repressionsmaßnahmen gegen die angeblich „revolutionäre“ Bedrohung durch die Sozialdemokratie (D8, D9, B3, B4, B5, B6). Zwei Attentatsversuche auf Kaiser Wilhelm I. (D11, D12, D13, B7, B8) führten zur Verabschiedung des Sozialistengesetzes im Oktober 1878 (B12). Die Kampagne für das Verbot sozialdemokratischer Aktivitäten war beim deutschen Bürgertum sogar noch populärer als der Kulturkampf, und ihr Scheitern erwies sich als noch schwererer Schlag für die Autorität des Bismarckstaates. Die beiden Kampagnen hatten viele Merkmale gemein. Beide weckten Erwartungen beim liberalen Bürgertum, dass ein Feldzug gegen die „Reichsfeinde“ die Stärke und innere Einheit des neuen Nationalstaats konsolidieren würde, entweder durch die erneute Geltendmachung der staatlichen Gewalt gegenüber den Anhängern des Papstes oder durch die Verteidigung des Privateigentums und der etablierten Gesellschaftsordnung gegen die Kräfte der Revolution. Beide führten zu liberalen Selbstanklagen und Bedenken hinsichtlich der Weisheit des Schritts, eine einzelne politische Bewegung für „jenseits der Grenzen des Erlaubten“ zu erklären (D10, D14, D15, B13). Beide bewiesen, dass der Polizei, den Gerichten und staatlichen Verwaltungsbeamten die Mittel fehlten oder sie nur unzureichend darauf eingeschworen waren, eine politische Ideologie zu bekämpfen, die einen so großen Teil der Bevölkerung vertrat (D39, B14, B15). Zudem trugen beide direkt zu einem starken Solidaritätsgefühl unter den Zielgruppen bei und erhöhten deren Wahlerfolge und parlamentarischen Einfluss.


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