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Philipp Otto Runge, Der kleine Morgen (1808)

Philipp Otto Runges (1777-1810) Der kleine Morgen – Teil eines unvollendeten vierteiligen Bildzyklus mit dem Titel Tageszeiten – ist vielleicht das seltsamste und gleichzeitig das repräsentativste Bild der frühen Romantik. Viele Maler und Schriftsteller des frühen 19. Jahrhunderts hatten ein starkes Interesse an idealistischen und transzendentalen Theorien. Von den Schriften Johann Ludwig Tiecks und Novalis‘ bis hin zu den Gemälden Caspar David Friedrichs versuchte die deutsche Kunst der Romantik, den mystischen Glauben umzusetzen, dass die natürliche, sichtbare Welt verborgene, spirituelle Bedeutungen enthielt, die durch das höhere Bewusstsein des Künstlers entschlüsselt und mittels einer symbolischen Sprache dem Publikum vermittelt werden könnten. Wie auch Friedrich wuchs Runge, der ebenfalls aus Pommern stammte, in der nordisch-protestantischen Tradition der pietistischen Naturverehrung auf. In der Malerei kann diese Tradition mindestens bis zu Albrecht Dürer (1471-1528) zurückverfolgt werden, sie verband ein gründliches Studium der Natur mit einer stark religiösen Ehrfurcht vor der Schönheit der Landschaft. Die frühen Romantiker steigerten diese Kombination von Naturalismus und Symbolismus allerdings bis zu einem beinahe piktographischen Extrem. In Der kleine Morgen sollen Naturphänomene wie Farbe und Licht beispielsweise den Aufstieg der erdgebundenen Seele zur Befreiung ausdrücken. Wie das Schicksal von Runges eigenem Projekt jedoch verdeutlicht, konnte eine derart spekulative und subjektive Grundlage eine künstlerische Bewegung nicht lange stützen. Die komplexe und ehrgeizige Anlage von Runges geplantem Zyklus (der sich, ähnlich wie Novalis‘ Roman Heinrich von Ofterdingen auf die Schriften Jacob Böhmes, eines Mystikers des 17. Jhdts. bezog) war so abstrakt, dass sie selbst für andere Romantiker unverständlich war. Durch die absolute Einzigartigkeit seiner symbolischen und bildlichen Sprache stellt Runge das beste Beispiel des paradoxen Strebens der Romantiker dar: die Suche nach einer universellen Form der Kommunikation mit gänzlich subjektiven Mitteln.

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Philipp Otto Runge, <I>Der kleine Morgen</i> (1808)

© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Hamburger Kunsthalle / Elke Walford
Original: Hamburg, Hamburger Kunsthalle