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Georg Wedekind, „Anrede an seine Mitbürger”, gehalten in der Gesellschaft der Volksfreunde zu Mainz (27. Oktober 1792)

Georg Wedekind (1761-1831) war ein gut ausgebildeter Arzt, der in den Dienst des Erzbischofs von Mainz eintrat, einer der drei geistlichen (katholischen) Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches und Herrscher eines bedeutenden Territorialfürstentums im Südwesten Deutschlands. Nach der Besetzung des Kurfürstentums durch die Franzosen im Laufe des Krieges von 1792 (in dem die führenden deutschen Mächte gegen Frankreich kämpften) gründeten revolutionsfreundliche Aktivisten wie Wedekind und Georg Forster den Mainzer Jakobinerklub und machten sich daran, eine demokratische Republik anstelle des gestürzten Kirchenregimes zu organisieren. Ihre Bemühungen fanden beträchtliche Unterstützung in der deutschen Bevölkerung, die sich zahlreich an der ersten allgemeinen modernen Wahl in der deutschen Geschichte beteiligten und im Februar 1793 den „Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent“ bildeten, der die neue Republik zu regieren suchte. Doch die Willkür der französischen Besatzungsbehörden und der lokale religiöse Konservatismus schwächten zusammen mit anderen Faktoren die öffentliche Unterstützung für das neue Regime. Dieses wurde dann 1793 durch die deutsche Rückeroberung des Kurfürstentums hinweggefegt, worauf die Jakobineraktivisten Verfolgungen ausgesetzt waren. Wedekind überlebte und schlug eine erfolgreiche Laufbahn als Hofarzt in Hessen, als Gesundheitsreformer und liberaler Publizist ein. Hier prangert er das Regime des abgesetzten Erzbischofs Erthal an und drängt mit aufklärerischer Rhetorik auf die Übernahme einer demokratischen Selbstverwaltung.

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Ich lasse diese Anrede drucken, weil meine Mitbürger es wünschen, weil ich es tun zu müssen glaube. Ein Mann, der alle Tage zum Volke redet wie ich, soll nicht beurteilt werden wie ein anderer, der selten auftritt. Überdem ist es nicht so leicht, als viele der Herren, die schön, elegant und erhaben zu schreiben wissen, glauben, auch populär zu schreiben.

Ich suche das zu lernen, weil ich sonst wenig nützen würde, und ich bitte andere, daß sie es auch bald lernen und es mir darin zuvortun mögen.

Mainz gewinnt durch eine Revolution, die Mainzer sind schuldig, eine Revolution zu unternehmen, und wer ihnen zu einer bloßen Verbesserung ihrer alten Verfassung rät, der rät ihnen übel.

Es sind noch manche unter uns, meine Brüder, die sagen: Wozu eine Veränderung unserer alten Verfassung? Wir sind zufrieden. Andere sagen: Eine Veränderung unserer Verfassung ist unmöglich, oder sie würde doch so viele üble Folgen nach sich ziehen, wodurch das Gute, welches die Revolution herbeiführte, weit überwogen würde. Andere sagen: Wir wollen keine Revolution, keine gänzliche Abschaffung unserer alten Verfassung, sondern nur eine Verbesserung derselben. Wieder andere sind endlich der Meinung, eine Revolution, ja sogar eine bloße Abänderung unserer gegenwärtigen Regierungsform sei unerlaubt und pflichtwidrig.

Ich will über alle diese Dinge Euch meine Gedanken eröffnen, und denn seid Ihr wieder so gut und sagt auch Eure Meinung frei heraus.

Zuerst laßt uns untersuchen, ob Mainz bei einer Revolution gewinne?

Was ich habe, das brauche ich nicht erst zu gewinnen. Es fragt sich also wieder: Hat unsere gegenwärtige Verfassung Mängel? – Schon wenige Betrachtungen werden Euch davon überzeugen.

Unser Mainzer Staat war bis itzt eine elektive Monarchie, das heißt, er stand unter dem fast unumschränkten Willen eines nicht vom Volke, sondern von einer gewissen Anzahl von adeligen Geistlichen gewählten Fürsten.

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