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Adolph Freiherr von Knigge, „Der neue Staat” (1792)

Im folgenden Artikel verspottet Adolf von Knigge (1752-96), ein produktiver Publizist der Aufklärung, diejenigen, die den amerikanischen Aufstand ablehnten, aus Angst, er würde im Volk Anarchie auslösen. Stattdessen, so Knigge, führte die Revolte zu einer geordneten und florierenden liberalen Utopie.

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Erster Abschnitt

Wer kann richtig über große Weltbegebenheiten urtheilen?

Über große Weltbegebenheiten kann am richtigsten erst von der Nachkommenschaft geurtheilt werden; nur sie vermag, mit kaltem Blute die Zeugnisse der Zeitgenossen, die, ohne Unterschied, Alle, mehr oder weniger partheiisch sind, zu prüfen und Ursachen, Würkungen und Folgen, die einen durch die andern zu erklären.

Nur der, welcher auch nicht auf die entfernteste Weise mit den handelnden Personen in Verhältnissen steht, darf sich schmeicheln, ein unbefangner Richter zu seyn und das ist bey solchen Ereignissen, die auf ganze Staatskörper Einfluß haben, nie der Fall, so lange wir selbst noch Glieder eines Staatskörpers sind.

Man wende hiergegen nicht ein, daß die Zeit die kleinen Vorfälle vergessen mache, die oft, mehr wie die großen, öffentlichen Ereignisse, als Triebfedern würken! Wer weiß nicht, mit welchen falschen Anekdoten sich die Neuigkeit des Tags trägt! Grade diese werden erst nach und nach berichtigt, erläutert und das ächt Charakteristische bleibt. Doch versteht sich’s, daß ich hier von einem Zeitalter rede, in welchem Cultur und Philosophie nicht schlafen. Wer wird leugnen, daß wir jezt richtiger über das Zeitalter Ludwig des Vierzehnten urtheilen, wie die, welche, während seiner Regierung, aus Menschenfurcht, aus Schmeicheley, aus falschem Enthusiasmus ihn bis in den Himmel erhoben, oder aus Rache und Neid ihm vielleicht jede Art von Größe und Tugend absprachen? Wer mögte wohl eine allgemeine Geschichte der Reformation für zuverlässig halten, die im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhunderte geschrieben wäre?

Das Gemälde muß erst aus einem Standpunkte beobachtet werden können, wo man es im Ganzen übersieht, ohne von dem Schimmer einzelner Farben, ohne von dem Interesse an einzelnen Gruppen geblendet, ohne durch die kleinen Details zerstreuet zu werden. Unsre individuellen Lagen aber, Vorliebe oder Wiederwillen vor oder gegen unsre und fremde Verfassungen, gegen unsre und fremde Systeme, vor oder gegen Nationen und Personen, die entweder Beförderer oder Stöhrer, Tadler oder Lobpreiser jener Gegenstände sind, determiniren uns, so lange wir mitten in dem Gewühle leben. Kleine, unmerkliche Beziehungen stimmen uns zur Partheylichkeit gegen lebende Personen und gegenwärtige Dinge. Selbst auf den geübten Denker, der sich ganz kalt und unbefangen glaubt, würkt heimlich irgend eine von diesen Rüksichten; wäre es auch nur ein vaterländisches oder ein Erziehungs-Vorurtheil, eine vorgefaßte Meinung von denen, welche sich der Sache annehmen, oder dergleichen.

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