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Hunger: Ernst Gläser, Jahrgang 1902 (1928)

Sein Roman Jahrgang 1902 machte den Romanautor, Herausgeber und Journalisten Ernst Gläser (1902-1963) zum Sprachrohr einer belasteten Generation. Bereits kurz nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1928 wurde der Roman zum internationalen Bestseller. Er beschreibt die Erfahrungen eines Jungen, der zwar aufgrund seiner jungen Jahre nicht selbst im Krieg gekämpft hatte, aber dennoch alt genug war, um die aus dem Krieg resultierende soziale Orientierungslosigkeit und materielle Entbehrung zu durchleben. Damit illustriert der Roman sehr deutlich die ablehnende Haltung der deutschen Jugend gegenüber den „verfehlten“ Wegen und Werten der älteren Generation sowie ihre Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit und einer neuen Richtung. Unter den Nationalsozialisten fiel das Buch 1933 der Bücherverbrennung anheim, vor allem wegen seiner pazifistischen „Tendenzen“ und sexuellen Explizitheit – nicht zu vergessen zudem die Sympathie des Autors für die Linke. (Wobei Gläser später ironischerweise ein überzeugter Konservativer wurde, den die Nationalsozialisten „rehabilitierten“ und als Herausgeber beschäftigten). Der folgende Auszug beschreibt das Leid, das der Erste Weltkrieg verursachte, insbesondere die ihn begleitende Lebensmittelknappheit. Hunger wurde zu einer überwältigenden Lebensrealität an der Heimatfront, und vielseitige Wurzelgemüse wie die Rübe avancierten zu einem Kernbestandteil der meisten Mahlzeiten.

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„Das wird ein harter Winter werden", seufzte meine Mutter an einem dieser Tage, als Kathinka das Essen auf den Tisch stellte. Es bestand aus einigen Scheiben speckfreier Wurst, zierlich geschnitzelten Rüben, die durch eine dünne Soße zusammengehalten wurden, und aus drei Kartoffeln pro Kopf. Das Brot ließ sich sehr gut zum Modellieren von Männerchen verwenden. Es war wie Lehm.

Wir saßen abwartend, fast betend vor diesem Essen. Vielleicht dachten wir, es würde durch ein Wunder nach unseren Wünschen verändert. Während ich apathisch und lustlos meine Serviette entfaltete – denn wir aßen schon seit Monaten fast jeden Tag das gleiche –, legte meine Mutter ihre Hand in meinen Nacken, strich mir fast furchtsam über die Haare und sagte leise und undeutlich: „Ich kann nichts dafür . . . morgen bekomme ich vielleicht ein paar Eier und Fleisch . . . sei nicht so traurig . . . vielleicht bekomme ich auch weißes Mehl . . ." Sie weinte.

„Aber Mutter," log ich sie an, „das schmeckt mir sehr gut, aber natürlich, das wär' doch noch mal schöner", packte den Löffel und tauchte ihn mit begeistertem Schwung in die blassen Rüben.

Da fiel mir Kathinka, die seit Kriegsbeginn mit uns am Tisch essen durfte, in den Arm, sah mich strafend an und faltete die Hände.

Wir setzten uns steif in die Stühle, und während auf der Straße eine Kompanie neuer Rekruten in befohlenem Gesang nach den Schießplätzen marschierte, betete ich laut und trotzig: „Lieber Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast."

Von dem Brotteller leuchtete in roten Buchstaben der Spruch dieses Jahres: „Besser K-Brot als kein Brot . . ."

Dann beugten wir still unsere Köpfe über das Gericht.

Kathinka schenkte mir ihre Kartoffeln, meine Mutter zwei Scheibchen Wurst. Danach mußte ich mich hinlegen, damit das Essen anschlüge.

Kathinka aber wurde gebeten, nächsten Sonntag zu ihren bäuerlichen Eltern nach Oberfranken zu fahren und Butter zu holen. Meine Mutter schenkte ihr dafür eine ihrer schönen Blusen und für ihren alten Vater, der gern Bücher las, drei Bände Felix Dahn: „Der Kampf um Rom".

„Danke schön", sagte Kathinka und wischte sich vor Freude die Hände mit der Schürze, an deren Tasche ein schwarz-weiß-rotes Fähnchen gestickt war. „Ha! i bring schon die Butterwecken heim – miich verwische se net ..!" Sie meinte damit die Feldgendarmen, die seit einem Monat an den Bahnhöfen standen und jeden ankommenden Passagier auf verbotene Lebensmittel untersuchten. Wir vertrauten Kathinka, denn wir wußten, wohin sie die Butterwecken versteckte. In ihre wollenen Pumphosen.

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