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Hermann Cohen, „Deutschtum und Judentum” (1915)

Hermann Cohen (1842-1918) war einer der wichtigsten deutschen Philosophen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Als Professor an der renommierten Universität Marburg hat er sich vor allem als einer der Gründer des Neukantianismus einen Namen gemacht und damit als einer der Befürworter der Vernunft zu einer Zeit, da der philosophische Materialismus und Positivismus zunehmend an Bedeutung gewannen. Als deutscher Jude interessiert sich Cohen auch für die Erforschung von Wesen und Stellung des Judentums in der deutschen Kultur, wie seine Rolle als Mitbegründer der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judenthums im Jahre 1902 beweist. In diesem Aufsatz aus dem Jahre 1915 erörtert Cohen, welche kulturellen Gemeinsamkeiten er zwischen Deutschland und dem Judentum sieht und fordert zu einer breiteren Anerkennung der historischen Bedeutung und anhaltenden Beiträge des Judentums zum geistigen und intellektuellen Leben in Deutschland auf. Cohen sah den Ersten Weltkrieg als eine mögliche Gelegenheit, die engstirnigen Vorurteile, die die christlich-jüdischen Beziehungen belasteten, durch einen alle vereinenden Patriotismus zu ersetzen.

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So sind wir in diesen Zeiten eines epochalen Völkerschicksals auch als Juden stolz darauf, Deutsche zu sein, denn wir werden uns der Aufgabe bewußt, die alle unsere Glaubensgenossen auf dem Erdenrunde von der religiösen Bedeutung des Deutschtums, von seiner Einwirkung, von seinem Rechtsanspruch auf die Juden aller Völker, und zwar ebenso für ihre religiöse Entwicklung, wie für ihre gesamte Kulturarbeit überzeugen soll. So fühlen wir uns als deutsche Juden in dem Bewußtsein einer zentralen Kulturkraft, welche die Völker im Sinne der messianischen Menschheit zu verbinden berufen ist; und wir dürfen den Vorwurf von uns abweisen, als ob es unsere geschichtliche Art wäre, die Völker und die Stämme zu zersetzen. Wenn es wieder einmal zum ernstlichen Bestreben nach internationaler Verständigung und wahrhaft begründetem Völkerfrieden kommen wird, dann wird unser Beispiel als Vorbild dienen dürfen für die Anerkennung der deutschen Vormacht in allen Grundlagen des Geistes- und des Seelenlebens. Und ohne diese bereitwillige Voraussetzung glauben wir nicht an eine zureichende Unterlage für eine aufrichtige Verständigung.

Wir sind auch der beglückenden Zuversicht, daß durch den Heldensieg unseres Vaterlandes der Gott der Gerechtigkeit und der Liebe dem Barbarenjoch das Ende bereiten werde, welches auf unseren Glaubensbrüdern im russischen Reiche lastet, deren ganzes politisches Dasein allem Recht, aller Staatsvernunft, aller Religion und aller Sittlichkeit, allem menschlichen Erbarmen und aller Achtung vor edlem Menschenwert Hohn spricht. Wir hoffen auch auf den Triumph der deutschen Waffen, daß er an diesen Menschen die Menschenwürde aufrichtet, die sie durch ihr glorreiches Martyrium in sich behauptet haben.

Und auch für uns selbst erhoffen wir zuvörderst für unsere Religionsgemeinde neben den anderen Kirchengemeinden im deutschen Staate die fernere Durchführung unserer Gleichberechtigung: daß die widerwillige Gesinnung schwinden möge, welche ohne Liebe und ohne Zutrauen uns Anteil gewinnen läßt an den höchsten und heiligsten Aufgaben unseres Staates; daß die sittlich-religiöse Gleichberechtigung unserer Religion zur rückhaltlosen Anerkennung gelange; daß auf dem Grunde dieser freien Einsicht, dieser wahrhaften Aufklärung mit Sympathie und Verständnis die religiöse Gemeinschaft erkannt werde, welche uns mit den christlichen Bekenntnissen verbindet, und in welcher unsere Sonderart noch immer die unersetzliche Grundlage bildet für die ethische Fortentwicklung des Monotheismus; daß demzufolge der Wissenschaft des Judentums die Pforten der Universität endlich geöffnet werden, wodurch allein das Interesse des Staates an dem Fortbestande und der geistig-sittlichen Fortentwicklung unserer Religion betätigt wird.

Wir leben in dem Hochgefühl des deutschen Patriotismus, daß die Einheit, die zwischen Deutschtum und Judentum die ganze bisherige Geschichte des deutschen Judentums sich angebahnt hat, nunmehr endlich als eine kulturgeschichtliche Wahrheit in der deutschen Politik und im deutschen Volksleben, auch im deutschen Volksgefühl aufleuchten werde.



Quelle: Herman Cohen, „Deutschtum und Judentum“ (1915), in Werke. 16 Bände, Hildesheim, 1978-97, Band 16, S. 528-30.

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