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Gefährdung der Demokratie (29. Oktober 1962)

Am 10. Oktober 1962 veröffentlichte die Zeitschrift Der Spiegel einen Artikel, in welchem berichtet wurde, die Bundeswehr sei gegen einen atomaren Angriff nur bedingt abwehrbereit. Der Zeitschrift wurde darauf Landesverrat vorgeworfen. Am Freitag, den 26. Oktober 1962 stürmte die Polizei die Verlagsräume und verhaftete den Verleger Rudolf Augstein. Conrad Ahlers, der Verfasser des Artikels und stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift, wurde während seines Urlaubs in Spanien verhaftet. In diesem Artikel der politisch links orientierten Tageszeitung Frankfurter Rundschau werden in plastischer Sprache die Gefahren für die deutsche Demokratie beschworen, die durch die Aktionen von Bundesanwaltschaft und Polizei gegen den Spiegel hervorgerufen wurden.

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Bei Nacht und Nebel


Es waren fünfzehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg vergangen, als die Jahreszahl 1933 in das Buch der Geschichte einging. Heute sind es siebzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, und wir schreiben das Jahr 1962. Wir wissen, die Geschichte wiederholt sich niemals in den alten Formen; auch sollen hier keine falschen Vergleiche angestellt werden. Sicher aber sind wir, daß es heute und hier in diesem Lande ernsthaft um die Frage geht, wie lange die Deutschen die Freiheit, die ihnen geschenkt wurde, vertragen können.

Wer das Vorgehen der im Auftrage der Bundesanwaltschaft handelnden Sicherungsgruppe Bonn des Bundeskriminalamtes gegen den Herausgeber und die Redaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel verfolgt hat, konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß in der Nacht vom Freitag zum Samstag das Kapitel »Zweite Nachkriegsdemokratie« der neuesten deutschen Geschichte im festen Griff einer zackigen deutschen Polizeiaktion zugeknallt werden sollte. Es ist mehr als ein Zufall, es ist ein Zeichen, daß der entscheidende Akt dieses Dramas, die Verhaftung des Redakteurs Conrad Ahlers, auf deutschen Antrag ausgerechnet von der Polizei des faschistischen Spaniens vollzogen wurde.

Wenn es also morgens in aller Frühe bei uns klingelt, können wir uns nicht weiterhin in dem beruhigenden Gefühl strecken, daß es nur der Milchmann oder der Junge mit den Brötchen sein kann; wenn um Mitternacht jemand an unsere Türe schlägt, wissen wir nicht mehr genau, daß es sich schlimmstenfalls um einen Telegrammboten oder einen betrunkenen Weggenossen handeln kann, der sich in der Türe geirrt hat. Wir müssen damit rechnen, daß es die politische Polizei ist, die bei Nacht und Nebel nach Landesverrätern sucht. Wenn wir hören, daß Kinder weinen, weil zu später Stunde ihre Zimmer nach Belastungsmaterial gegen ihre Eltern durchstöbert wurden, daß man Redakteuren die Abzugsfahnen ihrer Artikel beschlagnahmte und der Zensur zuführte, wenn es heißt, daß die Spiegel-Redaktionen in Hamburg und Bonn schlagartig von bewaffneten Kommandos besetzt worden sind und der Kollege den Kollegen in der Nachbarredaktion telefonisch nicht mehr erreichen konnte, dann dürfen wir nicht mehr sicher sein, daß es sich um eine Geschichte aus Moskau, Prag oder Leipzig oder aber aus dem Berlin des Jahres 1944 handelt. Doch wir sollen beruhigt sein. Das alles geschieht im Namen und zur Sicherung der Freiheit.

Diese Schilderung mag übertrieben klingen. Viele werden sagen: Das ist doch ein Einzelfall. Es wird sogar ganz Kurzsichtige geben, die sich hämisch die Hände reiben, weil es den bei manchen Stellen wenig beliebten Herrn Augstein getroffen hat, dessen journalistische Methoden nicht immer den Beifall auch kritischer Köpfe finden konnten. Im Schatten der Kuba-Krise werden andere wiederum meinen, mit Landesverrätern sollte man kurzen Prozeß machen. Wir aber sagen: Wehret solchen Anfängen! Niemals dürfen wir uns im Kalten Krieg den Methoden des totalitären Gegners so anpassen, daß wir gefährden, was allein verteidigungswürdig ist.

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