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Eine andere Ansicht: Rosa Luxemburg (1913)

In dieser Rede, die Rosa Luxemburg (1871-1919) in Leipzig hielt, prangert sie die Folgen des englischen Imperialismus für die Arbeiterklasse in Europa und die unterdrückten Völker in den Kolonien an. Sie kritisiert die Sozialdemokratische Partei (SPD), weil diese aus taktischen Gründen die militärische Expansionspolitik der Regierung mit trug. Ein Jahr später wurde Luxemburg inhaftiert, weil sie sich gegen die Wehrpflicht ausgesprochen hatte.

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Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse durch ein ganz spezielles Gebiet des öffentlichen Lebens in steigendem Maße in Anspruch genommen wird; dies Gebiet ist die auswärtige Politik. Für den Begriff und geistigen Horizont des Durchschnittsspießers gehört die auswärtige Politik zu jenem Abteil der Morgenzeitung, das er beim Morgenkaffee liest zur Zerstreuung seiner Sorgen oder von dem Gekeife seiner besseren Hälfte. Für die Arbeiterklasse dagegen ist die auswärtige Politik tief ernst und äußerst wichtig. Es ist nicht immer so gewesen. Wenn man das geistige Leben der Arbeiterschaft in den letzten Jahrzehnten verfolgt, so kann man förmlich den Puls dieses geistigen Lebens fühlen und beobachten, wie von Jahr zu Jahr bei der Arbeiterschaft die Aufmerksamkeit für die auswärtige Politik wächst. Trotzdem ist es noch immer nicht genug, es muß dahin gebracht werden, daß jede Arbeiterin und jeder Arbeiter verstehen lernt, daß es gilt, mit derselben Energie, Aufmerksamkeit und Leidenschaft wie die Fragen der inneren Politik alle Geschehnisse der Weltpolitik zu verfolgen. Jede Proletarierfrau und jeder Proletarier müssen sich heute sagen, es geschieht nichts in der auswärtigen Politik, was nicht die eigensten Interessen des Proletariats berührt. Wenn in Afrika von den deutschen Militärs die Neger unterdrückt werden, wenn auf dem Balkan die Serben und Bulgaren die türkischen Soldaten und Bauern niedermorden, wenn in Kanada bei den Wahlen die konservative Partei plötzlich die Oberhand gewinnt und die liberale Herrschaft zertrümmert, in allen Fällen müssen sich die Arbeiterinnen und die Arbeiter sagen, um eure Sache handelt es sich, eure Interessen stehen dort auf dem Spiel. Es ist Karl Marx gewesen, der uns schon viele Jahrzehnte, bevor diese Entwicklung so ausgeprägt zu erkennen war, Fingerzeige für die Erkenntnis dieser Erscheinung gegeben hat. In seiner berühmten Inauguraladresse sagte er unter anderem: Kämpfe um die auswärtige Politik bilden einen Teil des allgemeinen Kampfes für die Emanzipation des Proletariats, sie sind also ein Teil des Klassenkampfes.

Gerade wenn wir die jetzige weltpolitische Lage vergleichen mit der Zeit, in der die Inauguraladresse erschien, können wir den Wandel der Zeiten ermessen. In den 60er Jahren noch waren der Drehzapf der weltpolitischen Lage die Nachwehen und Folgen der Teilung Polens durch Preußen, Österreich und Rußland. Die gegenseitige Reibungsfläche der Mitschuldigen an dem Raube war es, um die sich die weltpolitische Lage drehte. Wenn heute jemand fragt, was der Mittelpunkt der weltpolitischen Ereignisse ist, so würde selbst ein ernsthafter Politiker über diese Frage in große Verlegenheit kommen. Heute haben wir in der Nordsee einen solchen Punkt, in der Rivalität zwischen England und Deutschland. Im Mittelmeer besteht ein ganzer Knäuel von Gegensätzen und Widersprüchen. Der Frieden am Balkan bedeutet die Zerreißung der europäischen Türkei und gleichzeitig die sichere Gewähr für den nächsten Krieg um die asiatische Türkei. Aber darin erschöpfen sich die internationalen Gegensätze nicht. Auf dem Leibe des unglücklichen Persiens wird der Kampf zwischen Rußland und England ausgefochten. Im vollsten Frieden wird ein Land und ein Volk zerstückelt. Ein Stück weiter nach Osten liegt der gewaltige Herd der Revolution in China. Von Asien führt der Weg über den Stillen Ozean nach Amerika. Hier erleben wir in den letzten Jahrzehnten immer neue Überraschungen. Seit die Vereinigten Staaten 1898 ihren ersten Kolonialkrieg mit Spanien um die Philippinen ausfochten, sehen die amerikanischen Kapitalisten begehrlich nach Asien. Daraus ist der Gegensatz zwischen Japan und den Vereinigten Staaten und England entstanden.

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