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Aufkündigung des Rückversicherungsvertrags mit Russland (1890)

Der Rückversicherungsvertrag war ein 1887 unterzeichneter Geheimvertrag zwischen Russland und Deutschland, der eine wichtige Säule der späten Außenpolitik Bismarcks bildete. Die ursprüngliche Intention des Vertrags war, dass beide Mächte sich im Kriegsfall gegenseitig Neutralität zusicherten. Bismarcks Nachfolger hielten die Bestimmungen des Vertrags für zu umständlich und misstrauten Russland zudem. Der Rückversicherungsvertrag fiel 1890 dem „Neuen Kurs“ von Reichskanzler Leo von Caprivi (1831-1899) zum Opfer. Als die deutschen Medien 1896 erstmals von dem Rückversicherungsvertrag erfuhren, löste die öffentliche Kenntnis des Geheimvertrags neun Jahre nach dessen Zustandekommen im Wilhelminischen Deutschland einen politischen Skandal aus.

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Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt Grafen von Berchem.
Reinschrift, am 25. März dem Reichskanzler von Caprivi eigenhändig, von diesem am 28. zu den Akten gegeben.

Berlin, den 25. März 1890

Der Vertrag, um dessen Erneuerung es sich handelt, hat den Zweck, kriegerische Ereignisse hervorzurufen, deren Lokalisierung äußerst unwahrscheinlich ist; wir können demnach leicht auf diesem Wege den allgemeinen Krieg herbeiführen, den wir sonst vielleicht heute vermeiden können und vermeiden sollen, auch nach der Meinung des Fürsten Bismarck; selbst im Falle unserer Neutralität würden wir am Ende immer in die undankbare Situation des Jahres 1878 geraten.

Durch den zu erneuernden Vertrag würde jedenfalls eine Macht von uns getäuscht, wahrscheinlich aber würden beide in Frage stehenden östlichen Nachbarn dadurch mystifiziert werden; denn zunächst verweigern wir den Österreichern die Bundeshilfe in der ersten entscheidenden Zeit der Entwicklung der bulgarischen Sache; sobald dieselbe einen weiteren Umfang genommen, müssen wir jedoch nach der oft ausgesprochenen Meinung des früheren Reichskanzlers dennoch für Österreich-Ungarn fechten, wenn dasselbe in Bedrängnis geratet, wodurch wir den Russen die Treue verletzen. Ein guter Friede kann daraus nicht erwachsen, wohl aber eine dauernde Verstimmung zweier großer Nationen, wie sie sich aus der Haltung Österreichs gegen Rußland im Krimkriege ergeben hat.

Der Vertrag liefert uns schon in Friedenszeiten in die Hand der Russen; sie erhalten eine Urkunde, womit sie jeden Augenblick unsere Beziehungen zu Österreich, Italien, England und der Pforte trüben können.

Der Vertrag gewährt keine Gegenseitigkeit. Aller Vorteil daraus kommt Rußland zugute. Frankreich wird uns nicht angreifen, ohne Rußlands Mitwirkung sicher zu sein. Eröffnet aber Rußland den orientalischen Krieg, was die Absicht des Vertrags ist, und schlägt, wie voraussichtlich, Frankreich gleichzeitig gegen uns los, so ist die Neutralität Rußlands gegen uns ohnedies in den Verhältnissen gegeben, sie liegt auch ohne Vertrag in diesem Falle im russischen Interesse. Der Vertrag sichert uns demnach nicht gegen einen französischen Angriff, gewährt hingegen Rußland das Recht der Offensive gegen Österreich an der unteren Donau und verhindert uns an der Offensive gegen Frankreich, abgesehen davon, daß er in seiner Tendenz mit dem deutsch-österreichischen Bündnis schwer vereinbar ist.

Die Bestimmung des Zeitpunktes des europäischen Krieges der Zukunft wird durch den Vertrag demnach in Rußlands Hände gelegt, und es erscheint nach den vorliegenden Anzeichen nicht ganz unwahrscheinlich, daß Rußland, gedeckt durch Deutschland, ein Interesse hat, bald loszuschlagen. Es darf dahingestellt bleiben, ob unser und unserer Verbündeten militärisches Interesse sich hiermit deckt.

Die Vereinbarung steht, wenn nicht dem Buchstaben, so jedenfalls dem Geiste der Tripelallianz direkt entgegen und wird uns, wenn die Russen im Süden losbrechen, voraussichtlich in Gegensatz zu befreundeten Mächten bringen. Der Vertrag ist aber auch praktisch undurchführbar.



Quelle: Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, im Auftrage des Auswärtigen Amtes, hrsg. von Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, und Friedrich Thimme, Bd. 7, Berlin 1923, S. 4-6.

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