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Sozialistischer „Radikalismus”: Rosa Luxemburg „Sozialreform oder Revolution” (1899)

Rosa Luxemburg (1871-1919) entstammte einer im russischen Teil Polens beheimateten jüdischen Familie aus den sozialen Mittelschichten. Ihre Schrift „Sozialreform oder Revolution“ entstand 1899 als Verteidigung des Marxismus. Luxemburg kritisierte Eduard Bernsteins reformistische Haltung und die revisionistischen Theorien, die dieser in seiner Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ vertrat. Sie führte schließlich die Abspaltung des radikalen sozialistischen Parteiflügels von den reformistischen Sozialdemokraten an. Luxemburg wurde 1919 ermordet, als sie sich an die Spitze der kommunistischen Spartakus-Revolution in Berlin stellte.

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Vorwort

Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blick überraschen. Sozialreform oder Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet, der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.

Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der Theorie von Ed. Bernstein, wie er sie in seinen Aufsätzen: Probleme des Sozialismus, in der Neuen Zeit 1896/97 und namentlich in seinem Buche: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie dargelegt hat. Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am schärfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: „Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung alles.“

Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage „Sozialreform oder Revolution?" im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage: Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern handelt es sich in letzter Linie nicht um diese oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung.

Doppelt wichtig ist diese Erkenntnis für die Arbeiter, weil es sich hier gerade um sie und ihren Einfluß in der Bewegung handelt, weil es ihre eigene Haut ist, die hier zu Markte getragen wird. Die durch Bernstein theoretisch formulierte opportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes, als eine unbewußte Bestrebung, den zur Partei herübergekommenen kleinbürgerlichen Elementen die Oberhand zu sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln. Die Frage von der Sozialreform und der Revolution, vom Endziel und der Bewegung ist von anderer Seite die Frage vom kleinbürgerlichen oder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung.



Quelle: Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution,“ Leipziger Volkszeitung (1899). In Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1893-1905. Berlin: Dietz, 1990, S. 369-71.

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