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Sozialistischer „Revisionismus”: Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie (1899)

Eduard Bernstein (1850-1932) war einer der sozialdemokratischen Parteiführer und Hauptvertreter der „revisionistischen“ Version des Marxismus. Er warb 1896 und 1898 in einer Artikelserie in Karl Kautskys Neuer Zeit für seine Ansichten. Diese Texte bildeten die Grundlage seiner Schrift Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie von 1899. Bernstein glaubte weder daran, dass der „Klassenkampf“ unvermeidlich sei, noch an den unaufhaltsamen Zusammenbruch des Kapitalismus. Er kam zu dem Schluss, dass die Marxisten einen praktischeren Kurs einschlagen müssten, um Schritt für Schritt einen sozialistischen Staat innerhalb des Systems der parlamentarischen Demokratie aufzubauen.

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[ . . . ] Ohne ein bestimmtes Maß demokratischer Einrichtungen oder Überlieferungen wäre die sozialistische Lehre der Gegenwart überhaupt nicht möglich, gäbe es wohl eine Arbeiterbewegung, aber keine Sozialdemokratie. Die moderne sozialistische Bewegung, welches auch ihre theoretische Erklärung, ist faktisch das Produkt des Einflusses der in der großen französischen Revolution und durch sie zur allgemeinen Geltung gekommenen Rechtsbegriffe auf die Lohn- und Arbeitszeitbewegung der industriellen Arbeiter. Diese würde auch ohne sie bestehen, wie es ohne sie und vor ihnen einen an das Urchristentum anknüpfenden Volkskommunismus* gab. Aber dieser Volkskommunismus war sehr unbestimmt und halb mystisch, und die Arbeiterbewegung würde ohne die Grundlage jener Rechtseinrichtung und Rechtsauffassungen, die aber mindestens zu einem großen Teil notwendige Begleiter der kapitalistischen Entwicklung sind, des inneren Zusammenhangs entbehren. Ähnlich wie dies, um ein annähernd entsprechendes Bild zu geben, heute in orientalischen Ländern der Fall ist. Eine politisch rechtlose, in Aberglauben und mit mangelhaftem Unterricht aufgewachsene Arbeiterklasse wird wohl zeitweilig revoltieren und im kleinen konspirieren, aber nie eine sozialistische Bewegung entwickeln. Es bedarf einer gewissen Weite des Blickes und eines ziemlich entwickelten Rechtsbewußtseins, um aus einem Arbeiter, der gelegentlich revoltiert, einen Sozialisten zu machen. Das politische Recht und die Schule stehen denn auch überall an hervorragender Stelle der sozialistischen Aktionsprogramme. [ . . . ]

Hat [ . . . ] die Sozialdemokratie als Partei der Arbeiterklasse und des Friedens ein Interesse an der Erhaltung der nationalen Wehrhaftigkeit? Unter verschiedenen Gesichtspunkten liegt die Versuchung nahe, die Frage zu verneinen, zumal wenn man von dem Satz des Kommunistischen Manifests ausgeht: „Der Proletarier hat kein Vaterland“. Indes dieser Satz konnte allenfalls für den rechtlosen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Arbeiter der vierziger Jahre zutreffen, hat aber heute, trotz des enorm gestiegenen Verkehrs der Nationen miteinander, seine Wahrheit zum großen Teile schon eingebüßt und wird sie immer mehr einbüßen, je mehr durch den Einfluß der Sozialdemokratie der Arbeiter aus einem Proletarier ein — Bürger wird. Der Arbeiter, der in Staat, Gemeinde usw. gleichberechtigter Wähler und dadurch Mitinhaber am Gemeingut der Nation ist, dessen Kinder die Gemeinschaft ausbildet, dessen Gesundheit sie schützt, den sie gegen Unbilden versichert, wird ein Vaterland haben, ohne darum aufzuhören, Weltbürger zu sein, wie die Nationen sich näher rücken, ohne darum aufzuhören, ein eigenes Leben zu führen. Es mag sehr bequem erscheinen, wenn alle Menschen eines Tages nur eine Sprache sprechen. Aber welch ein Reiz, welch eine Quelle geistigen Genusses ginge damit dem Menschen der Zukunft verloren. Die völlige Auflösung der Nationen ist kein schöner Traum und jedenfalls in menschlicher Zukunft nicht zu erwarten. So wenig es aber wünschenswert ist, daß irgendeine andere der großen Kulturnationen ihre Selbständigkeit verliert, so wenig kann es der Sozialdemokratie gleichgültig sein, ob die deutsche Nation, die ja ihren redlichen Anteil an der Kulturarbeit der Nationen geleistet hat und leistet, im Rate der Völker zurückgedrängt wird.


* Wiederholt ist es mir (und sicher auch anderen) in früheren Jahren passiert, daß am Schlusse einer Agitationsversammlung Arbeiter oder Handwerker, die zum ersten Male eine sozialistische Rede gehört, zu mir kamen und mir erklärten, was ich da gesagt hätte, das stünde alles schon in der Bibel, sie könnten mir die Stellen Satz für Satz zeigen. (Anmerkung Bernsteins)

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