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Sozialdemokratische Taktiken: Georg von Vollmar (1891)

Nach dem Ende der staatlichen Verfolgung 1891 stand die Sozialdemokratische Partei vor der Entscheidung, welchen Kurs die Partei sowohl in praktischer als auch in ideologischer Hinsicht zukünftig einschlagen sollte. Der einflussreiche bayerische Parteiführer Georg von Vollmar (1850-1922) trat für eine Reform ein, durch die sich die Partei aus ihrer radikalen Oppositionsrolle verabschiedet hätte, um den Weg der parlamentarischen Zusammenarbeit zu gehen.

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[ . . . ] Das hauptsächlichste Merkmal der Bismarck'schen Herrschaft war die völlige Erstarrung, die eiserne Unbeweglichkeit unserer öffentlichen Verhältnisse. Die Reichspolitik blieb auch dem geringsten modernen Gedanken grundsätzlich und hartnäckig verschlossen, namentlich auch auf dem Gebiete der Arbeiterbewegung. Die Verhältnisse wurden eigensinnig, ja mit Absicht auf die äußerste Spitze getrieben; erklärte doch Bismarck nach seinem Fall offenherzig, daß er gewünscht habe, den Kampf mit der Sozialdemokratie baldmöglich »militärisch zu lösen«, solange diese noch nicht die Übermacht habe. Diese gefahrdrohende Lage besteht heute nicht mehr. Das Unbewegliche ist in Bewegung gekommen, die anfänglich naturgemäß eine langsame und öfter stockende ist, aber in ihrem Fortgange immer lebendiger werden muß und kein Anhalten kennt. Die frühere Erstarrung ist gewichen, das alte Eis ist aufgethaut, eine Menge von Kräften, die bis dahin gefangen waren, beginnen zu keimen, sich zu regen. Der größte Fluch, der auf dem Reiche lag, ist gefallen: das Sozialistengesetz. Zweifellos ist die Beseitigung desselben vor allem der ebenso thatkräftigen als besonnenen Haltung der Sozialdemokratie und der Erkenntniß ihrer Unbesieglichkeit zuzuschreiben; aber das braucht uns nicht abzuhalten, die Einsicht derer anzuerkennen, welche es ohne äußeren Zwang fallen ließen. Der grundsätzliche Widerstand gegen jede Art von Veränderung und Reform ist gebrochen. Gewiß haben die herrschenden Klassen, besonders die mächtigen Interessengruppen der Agrarier und Großindustriellen, noch übergroße Herrschaft in ihren Händen. Aber so unbedingt und unerschüttert, wie früher, ist dieselbe nicht mehr; vielmehr hat sie hier und dort einen Stoß erlitten, und diese Bevorrechteten werden sich darauf einrichten müssen, wenigstens von ihren maßlosesten Forderungen nachzulassen. Auch auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes ist wenigstens der erste Schritt zur Besserung gethan worden. Gewiß ist ein himmelweiter, trauriger Abstand zwischen den schönen Versprechen in der kaiserlichen Botschaft und der Gewerbenovelle, wie sie von der Regierung vorgelegt und vom Reichstage schließlich angenommen worden ist. Der mit Hochdruck arbeitende Einfluß des Kapitalismus und die Kommandirsucht der Bürokratie, Eigennutz und Unkenntniß des Volkslebens haben das, was an gutem Willen vorhanden war, fast bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Darum mußten wir auch die Gewerbenovelle ablehnen; unsere berechtigte Bekämpfung ihrer schwächlichen, ja theilweise arbeiterfeindlichen Bestimmungen schließt aber nicht aus, daß dies Gesetz eine Anzahl freilich kleiner, aber thatsächlicher Verbesserungen enthält. Wichtiger als dies ist aber, daß man sich überhaupt einmal auf die Bahn der Arbeiterschutz-Gesetzgebung begeben hat, auf der man durch die Logik der Thatsachen, trotz allen Widerstrebens, immer weitergetrieben werden wird. Der Unterschied gegen früher drückt sich vor allem durch die Thatsache aus: daß wir heute im wesentlichen auf das gemeine Recht, den Boden des formal gleichen Rechtes gestellt sind und die Möglichkeit haben, einen gewissen Einfluß auf die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten auf gesetzlichem Wege zu üben.

Diese Veränderung kann nicht verfehlen, auch auf unsere Partei und ihr politisches Verhalten einzuwirken. [ . . . ]

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