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Eine Generalversammlung deutscher Israeliten (1893)

Der Antisemitismus erhielt im Europa der 1890er Jahre starken Auftrieb. In Frankreich gipfelten die gegen Juden gerichteten Diskriminierungen und Feindseligkeiten Mitte der 1890er in der Dreyfus-Affäre. Der jüdische Artilleriehauptmann im französischen Generalstab Alfred Dreyfus (1859–1935) geriet 1894 in Frankreich unter Verdacht des Landesverrats. Trotz mangelhafter Beweisführung wurde Dreyfus zunächst zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel (Französisch-Guyana) verurteilt. Der Schuldspruch war maßgeblich mitgetragen vom Antijudaismus der politisch einflussreichen Katholischen Kirche und begleitet von antisemitischen Parolen der französischen Öffentlichkeit. Infolge zahlreicher Proteste gegen das Urteil und mehrerer Revisionen des Gerichtsverfahrens wurde Dreyfus im Jahre 1906 endgültig rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen. Die Dreyfus-Affäre gab in Frankreich den Anstoß zur gesetzlichen Trennung von Religion und Staat, der Grundlage des noch heute geltenden Prinzips des Laizismus.

Die deutschen Juden hatten nach ihrer formalen Emanzipation 1848 erfolgreich Zugang zu unterschiedlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und beruflichen Feldern gefunden. Gegen Ende des Jahrhunderts fielen jedoch wirtschaftliche Umwälzungen, die der Industrialisierung geschuldet waren, mit einer ökonomischen Flaute zusammen; die Folge war, dass antijüdische Feindseligkeiten erneut entfacht wurden. Dieser Leitartikel aus der „Zeitung des Judenthums“ rief zur Gründung einer Versammlung deutscher Juden auf, um den wachsenden Antisemitismus zu bekämpfen. Diese Vereinigung, die erstmals 1893 zusammen trat, kann als Vorläufer des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gelten, der wichtigsten Einrichtung zur Vertretung politischer Interessen von Juden im Wilhelminischen Deutschland.

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Die Leidensgeschichte unseres Stammes und unseres Glaubens ist uralt und sie bleibt sich stets gleich; die Formen jedoch, unter denen sie in die Erscheinung tritt, wechseln je nach den allgemeinen Kulturzuständen der Völker. Man kann sagen, jedes Jahrhundert gebiert eine andere Form von Judenhetze, und es gehört fürwahr ein unzerstörbarer Glaube an die unüberwindliche Macht der sittlichen Entwickelungsfähigkeit im Menschen dazu, um nicht schließlich zu verzweifeln. Dieser Glaube hat uns Israeliten aufrecht erhalten mitten in den schwersten Stürmen, die über uns im Laufe der Jahrtausende hereingebrochen sind, und dieser Glaube an den sittlichen Fortschritt des gesammten Menschengeschlechtes, dieses wahrhaft unveräußerliche Erbtheil unseres Stammes, wird uns auch die Noth der schweren Zeit, in welcher wir leben, ganz sicherlich überwinden helfen. Es wäre unserer ruhmreichen, freilich auch unserer thränenreichen Geschichte unwürdig, kleinmüthig zu verzagen. Israels Wege sind nun einmal thränenschwer. Aber unser Trost liegt in der Geschichte unserer Entwickelung, in der Gewißheit, daß wir schon mit ganz anderen Gewalten fertig geworden sind, als mit dem zusammengelesenen Gelichter, moderner Judenhetzer. Auch für uns ist das Wort geschrieben: „Und die Pforten der Hölle, das heißt der Bösen, werden dich, Israel, nicht überwinden!“

Der Anblick, den die Gegenwart für uns darbietet, ist freilich ein sehr schmerzlicher und gar empfindlich sind die Kränkungen, denen unsere Glaubensgemeinschaft dermalen in Deutschland ausgesetzt ist, um so empfindlicher, je gesteigerter im Allgemeinen unser Ehrgefühl, unser Bewußtsein der Zugehörigkeit zu der Gesammtkultur des Zeitalters entwickelt ist. Von den Tagen Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings an bis auf unsere Zeit haben die deutschen Israeliten das Streben gezeigt, in immer stärkerem Maße Theil zu nehmen an der Entwickelung deutschen Geisteslebens. Wie nirgendwo anders auf Erden hat gerade in Deutschland solch eine befruchtende Wechselwirkung stattgefunden. Es ist kein Zufall. daß die Wiedergeburt der Wissenschaft vom Judenthum sich in Deutschland vollzogen hat. Die kritische Methode des deutschen Geistes, sie hat wie ein zündender Funke eingeschlagen in die jüdischen Köpfe und sie hat es bewirkt, daß die moderne Wissenschaft vom Judenthum auf die Wurzeln der deutschen Kritik im Allgemeinen zurückgeführt werden muß. Andererseits ist es ebenso wenig ein bloßer Zufall, daß gerade in denjenigen Gebieten menschlichen Schaffens, in denen sich das deutsche Gemüth am Edelsten entfaltete, nämlich in der dichterischen und in der musikalischen [unlesbar im Original] gleichfalls so hervorragende Leistungen aufzuweisen [unlesbar im Original]. Es hatte eben eine innigste Durchdringung dieser beiden von Haus aus gemüthsverwandten Elemente stattgefunden. Der den deutschen Israeliten innewohnende Geist schien gleichsam nur der Erlösung aus dem Banne zu harren, um sich sofort mit dem ihm verwandten deutschen zu verbinden, sich mit ihm zu durchdringen. Es giebt kein zweites Beispiel in unserer ganzen Geschichte; auch in Spanien nicht. Eine geistige Durchdringung der beiden Elemente, wie in Deutschland seit beinahe anderthalb hundert Jahren, hat dort nicht stattgefunden. Es würde natürlich den Rahmen eines Zeitungsartikels weit überschreiten, wollte man diesen Gedanken ins Einzelne durchführen. Die Andeutung mag daher genügen. Trotz alles Lärmens einer großen Zahl antisemitischer Tageshelden ist und bleibt es eine unbestreitbare völkerpsychologische Wahrheit, daß deutsche und jüdische Denk- und Empfindungsweise in tiefstem Grunde einander verwandt sind. Wer weiß, ob nicht gerade in dieser Menge von Berührungspunkten der wahre Grund der Abneigung gefunden werden mag. Vielleicht gilt das Gesetz von der Abstoßung gleichnamiger Pole auch in der moralischen Welt.

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