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Warum die soziale Frage von der Regierung aufgegriffen werden muss: eine konservative Sicht (29. Januar 1872)

Bis zu den 1870er Jahren war das Problem des „Pauperismus“ – bereits vor 1848 viel diskutiert – als „soziale Frage“ neu definiert worden. Sie fand bei Parteien aller Couleur Beachtung, aber die Linksparteien setzten sich bei der Kritik an der staatlichen Untätigkeit gewöhnlich an die Spitze. Diese Denkschrift an Reichskanzler Bismarck aus dem Jahr 1872 liefert eine unkonventionelle Sichtweise vom rechten Flügel. Der konservative Politiker und höhere Beamte Hermann Wagener (1815-1889) unterstellt, dass eine Politik des Nichthandelns verheerend wäre – für die Gesellschaft, aber auch für Bismarcks Regierung selbst. Wagener argumentiert, dass der Erlass weiterer Repressionsgesetze gegen katholische und sozialdemokratische Aktivisten die Regierung in einen gefährlichen Zweifrontenkrieg verwickeln würde. Stattdessen solle Bismarck die Initiative ergreifen und konkrete Lösungen vorschlagen, um den Bedürftigsten zu helfen. Eine grundsätzliche Neuordnung der hierarchischen Sozialstruktur wäre allerdings das Letzte gewesen, was dieser Konservative vorgeschlagen oder Bismarck akzeptiert hätte.

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Da nach meinem ganz gehorsamsten Dafürhalten die Art und Weise, in welcher man jetzt auf dem sozialen Gebiete vorgeht, nicht die richtige ist, so erlaube ich mir Euer Durchlaucht eine kurze Zusammenfassung dessen, was mir dagegen notwendig zu schein scheint, ehrerbietigst vorzulegen. [ . . . ]

Mir erscheint es [ . . . ] als ein überaus gefährliches Unternehmen, gleichzeitig den Kampf mit der ultramontanen und der sozialistischen Partei aufnehmen zu wollen und dadurch die Sozialen noch mehr und unwiderruflich in das klerikale Lager zu treiben. Mag es immerhin berechtigt und notwendig sein, die bestehenden Gesetze nach allen Seiten energisch zur Anwendung zu bringen und dadurch insbesondere die auswärtigen sowie diejenigen Elemente von der sozialen Bewegung fern zu halten, welche antinationale Zwecke verfolgen, so halte ich es doch für einen entschieden politischen Fehler, die sozialistischen Führer lediglich um ihrer sozialen Bestrebungen willen Ausnahmemaßregeln zu unterwerfen, und zwar, ohne gleichzeitig irgend etwas Namhaftes zur Befriedigung der berechtigten Bestrebungen ihrer Anhänger zu tun.

Die neuesten Berichte über die Entwicklung im Schoße der Internationale lassen darüber keinen Zweifel, daß innerhalb der englischen und deutschen Sektion nicht allein das nationale Element das Übergewicht gewonnen hat, sondern daß man dort auch anfängt, die bisherige Verquickung der sozialen Bestrebungen mit der Politik zu refüsieren, und daß dadurch ein vollständiger Riß zwischen der deutsch-englichen Sektion einer- und der russisch-französischen Sektion andererseits zu Stande gekommen ist.*

Es würde sehr zu beklagen sein, wenn seitens der deutschen Reichsregierung diese Wandlung nicht benützt und dadurch die soziale Bewegung der antinationalen Agitation aus der Hand genommen würde. [ . . . ]

Die neuesten zuverlässigen Berichte aus England und Amerika ergeben, daß man in England beispielsweise den neunstündigen Normalarbeitstag kaum noch als eine Frage der Gesetzgebung behandelt, sondern daß die Trade-Unions sich bereits stark genug fühlen, denselben selbständig durchzusetzen, und der amerikanische Kongreß hat bekanntlich eine Kommission niedergesetzt, um die Lage des Arbeiterstandes für die Zwecke der Gesetzgebung festzustellen. Daß Letzteres gleichzeitig ein Wahlmanöver ist, dürfte die Bedeutung der Maßregel eher steigern als abschwächen.


* Anspielung auf die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern von Karl Marx und denen des Anarchisten Micheal Bakunin, innerhalb der Ersten Internationalen, die zur Auflösung dieser Organisation führte. Kommentar aus Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. verbesserte Aufl. Göttingen: Muster-Schmidt, 1996, S. 52.

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