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Die Wohnung eines Leipziger Juraprofessors (1870er/1880er Jahre)

Diese Beschreibung der Wohnungseinrichtung eines Leipziger Juraprofessors erfolgt aus der kritischen Sicht seines Sohnes. Sie veranschaulicht, wie die aufstrebenden Schichten der Angehörigen freier Berufe sowie des höheren Beamtentums im Jahrzehnt nach der Reichseinigung begannen, ihre herausgehobene Stellung durch immer aufwendigere (und kostspieligere) Wohnungseinrichtungen zur Schau zu stellen. Das in dieser Beschreibung wiedergegebene schwülstige Ergebnis wurde auch von den Kameras zeitgenössischer Fotografen eingefangen, obwohl solche Einrichtungen damals in Deutschland keine Ausnahme darstellten.

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In dieser Verfassung setzte ich mich eines Vormittags allein in den sogenannten Saal, das große Besuchs- und Empfangszimmer der elterlichen Wohnung. Ich spielte mit den Augen an den Möbeln herum, als hätte ich sie noch nie gesehen. In welcher Welt lebte ich eigentlich? Auch das was ich hier sah, liebte ich nicht, war mir gleichgültig. Hier standen unförmige riesige Sessel mit rotem Samt puffig überzogen, an allen Ecken, an allen Armlehnen hingen zweifache schwer gefranste Troddeln, gleichfalls rot, auf speckigen Atlasrosetten, und gedrehte Schnüre, zweifach gezogen, säumten die mit Nähten aneinandergestoßenen Teile. Lange gewichtige Vorhänge, seidig glänzend, mit gewundenen, spiraligen und ewig sich neu verschlingenden Litzen und Borden benäht, waren nur wenig zur Seite gerafft, und wieder hingen die schweren Troddeln, die doppelten Schnüre und hielten den Stoff in zurechtgelegten und aufdringlich drapierten Falten. Daran an den Kanten ein Fransensaum seidener Knötchen und Büschel, Büschel und Knötchen, endlos sich wiederholend, von oben bis unten, quer unter den gerafften Überhängen, unten auf dem Boden, wo lange Schleppen von den Fenstern bis ins Zimmer lagen. Ein kleines Sofa, ähnlich den Sesseln, in gleichem rotem Samt, glich eher einer gleichmäßig gepolsterten Hohlkehle als einem Möbel. Kein Mensch konnte darauf sitzen, aber man bediente sich seiner dennoch dazu. Ein Gaslüster, aus kleinen Renaissancemotiven zusammengesetzt, hing in der Mitte. Die Türen trugen Aufsätze mit renaissancehaften Kehlungen und Simsen, und goldene Linien zierten die Pfosten und rahmten die Füllungen. Die Wände waren still dunkelblau angestrichen – eigentlich schön; aber eine unglücklich in sich verlaufende Mäanderlinie in einer andern Farbe umwanderte die Felder und versuchte sich, klassisch zu sein. In jedem der Felder hing ein Blatt jener farbigen Reproduktionen der großen Wandgemälde Rafaels und Michelangelos die damals vortrefflich von einer englischen Kunstgesellschaft hergestellt wurden. Auf den Tischen und auf kleinen tischhohen Schränken an den Wänden standen Fotografien meiner Eltern und jüngeren Geschwister – mein Konterfei war am seltensten sichtbar – vielfach in weichen, farbigen Plüschrahmen; denn auch hier schien der Tapezierer vor andern zu herrschen. Eine wirklich berufsmäßig schlecht farbig aquarellierte Fotografie meiner Schwestern in kindlichem Alter, die wie ich wußte viel bewundert wurde, hatte eine Art Ehrenplatz auf dem runden Tisch vor der roten gepolsterten Hohlkehle.

Dieses Zimmer war sicher eines der schönsten und wahrscheinlich das geschmackvollste seiner Art im Umkreis der gesellschaftlichen Bekanntschaft meiner Eltern. Wenn ich in andere Wohnungen kam, wo offenbar der Tapezierer hemmungslos waltete und vielleicht – was ich als Junge mit einem stillen empfangsbereiten Staunen bewunderte – zwei gekreuzte kurze Hellebarden mit messingpolierten nachgeahmten Spitzen durch einen kühn umgeworfenen, faltigen Samtüberhang zu einem Zeitungsständer zu vereinigen verstand, so merkte ich wohl, wie zurückhaltend und ausgesucht in allen Dingen die unsere war. Nur das Zimmer meines Vaters, wo bis zur Decke die wändebeherrschenden starken Bücherregale aufstiegen, zwischen denen eng gedrängt in ausgespartem Raum Fotografien persönlichster Erinnerung, seine Freunde, Lehrer, Schüler, das Innere einer Kirche, das ihn in eine besondere Stimmung versetzt hatte, sich aneinanderfügten; wo der gewaltige einfache Schreibtisch in der Mitte stand von dessen hoher bücherbesetzter Rückwand die zarte jugendliche Marmorbüste meiner Mutter von der Stelle herabsah von der anderswo ein kleiner gipsener Zeus von Otrikoli oder ein kriegerischer bronzener Agamemnon auf die sanfteste Stirn eines mitlebenden Gelehrten niederblickte, war ein würdigeres, persönlicheres, anziehenderes Reich, von dem ich mich denn auch gerne während der Abwesenheit meines Vaters [ . . . ] umgeben ließ.



Quelle: Rudolf Binding, Erlebtes Leben. Potsdam, 1937, S. 101ff.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C.H. Beck, 1982, S. 339-41.

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