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Wandernder Handwerksgeselle (um 1870)

Dieser Auszug aus den Erinnerungen eines Buchbinders zeigt die komplexen Aufnahmerituale, die die Arbeitssuche wandernder Handwerksgesellen vor 1870 unter dem deutschen Zunftwesen regelten. Diese Verfahren waren zwar äußerst restriktiv und zunehmend durch regionale Gesetze zur Sicherung der Gewerbefreiheit in Frage gestellt, sahen aber letztlich auch eine enge Einbindung qualifizierter Handwerker in die Werkstatt und Familie vor. Der resultierende Austausch und die Verbreitung von Fertigkeiten trugen maßgeblich zum wirtschaftlichen Fortschritt Deutschlands bei.

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So wanderte ich durch die wunderbaren Wälder und Auen an der schlesisch-sächsischen Grenze, allein und unter Vermeidung eines Reisegenossen bis Reichenbach in Schlesien. Hier aber fand ich einen solchen, der am selben Tage „fremd" geworden war. Er hatte längere Zeit hier in Arbeit gestanden und wollte nun weiter. Es war ein Feilenhauer, der selbst aus guter Familie war, aber von der Welt etwas sehen wollte. Er hatte den Feldzug von 1866 als Infanterist mitgemacht und wußte davon viel zu erzählen. Am meisten reizte mich, daß er über alle Metalltechniken bestens orientiert war, vor allem auch mit den Gebräuchen des sogenannten „Umschauens", das heißt des Aufsuchens von Arbeitsgelegenheit nach den Gebräuchen der Zunft, bestens vertraut war. Damals war es noch Pflicht der reisenden Metallarbeiter, Schmiede, Schlosser, Feilenhauer, Nagelschmiede und so weiter, daß sie beim Umschauen „einbrummen" mußten. Die Alten, die das noch kannten, sind nun wohl alle ausgestorben. Man mag heute über solche Gebräuche lächeln und die Achseln zucken: die Sache hatte doch einen besonderen Zweck, denn die richtige Anwendung der Umschau-Gebräuche war die zuverlässigste Legitimation für die Angehörigen eines Handwerks. Wehe dem, der die Gebräuche an einen anderen als wiederum an einen „Handwerksverwandten" verriet. Er war verachtet und geächtet für die Zeit seines Lebens.

Das schloß aber nicht aus, daß, galt man selbst als zuverlässig, man doch etwas von diesen Zunftgeheimnissen erfuhr. Daß so sehr wenig von solchen geheimen Zunftgebräuchen auf uns gekommen ist, kommt doch auch von dem strengen Stillschweigen, das der ehrliche Handwerksgeselle über solche Gebräuche bewahrt hat. Das nicht mehr bekannte „Einbrummen" geschah nach folgendem Ritus: Der „Zugereiste" klopfte nach einer ganz bestimmten Vorschrift mit dem Stocke an die Werkstattüre, öffnete sie nur ganz wenig und brummte durch den Türspalt laut und vernehmlich. Dann erfolgte die Aufforderung zum Eintreten; der Eintretende blieb dann noch bescheiden an der Türe stehen, bis die Aufforderung kam zum Nähertreten. Dann war er aber auch sofort als Gleichberechtigter eingeführt, wurde zum Sitzen aufgefordert, vor allen Dingen zum Erzählen. Er mußte berichten über das Leben in anderen Städten oder gar Ländern, über die Arbeitsweisen in anderen Gegenden, über Land und Leute. Je weiter er gereist war, desto angesehener war er; das war damals die einzige Verpflanzung neuer Arbeitsweisen, die einzige Vermittlung der Kenntnis der Materialien und Arbeitsgeräte in anderen Gegenden. So wurde der Zugereiste auch nach Möglichkeit mit Speise und Trank gestärkt, und wenn ihm keine Arbeit geboten werden konnte, erhielt er vor der Weiterreise noch sein „Viatikum", sein Reisegeschenk, das bei den verschiedenen Zünften eine verschiedene Höhe hatte.

Bei den Buchbindern war ein weniger umständliches Verfahren üblich. Nach dem Anklopfen und Eintreten der Gruß: Mit Gunst! Meister und Gesellen! Darauf die Antwort: Mit Gunst! Damit war eigentlich schon alles erledigt.



Quelle: Paul Adam, Lebenserinnerungen eines alten Kunstbuchbinders. 3. Auflage. Stuttgart: 1951, S. 49ff.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen. 3. Auflage. München: C.H. Beck, 1982, S. 291-92.

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