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Victor Böhmerts Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen (1858)

Dieser Auszug aus Victor Böhmerts (1829-1918) Buch über die Gewerbefreiheit übt Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen. Böhmert meinte, dass die Befürworter der Zunftordnung in Bremen mit ihren Gesinnungsgenossen deutschlandweit genau das Gegenteil von dem erreichten, was sie eigentlich vorgaben: den Mittelstand zu stärken, der zunehmenden Verarmung von Handwerkern und Arbeitern entgegenzuwirken und deren moralischen Abstieg zu verhindern.

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I. Die Gegner der Gewerbefreiheit und ihre Gründe

Die Reform der Gewerbegesetze steht gegenwärtig fast überall in Deutschland auf der Tagesordnung des öffentlichen Lebens. Auch in Bremen hat es nicht an ernstlichen Aufforderungen zur eingehenden Besprechung dieser wichtigen Frage gefehlt, deren Lösung nur auf kurze Zeit durch einen ablehnenden Beschluß der bremischen Bürgerschaft vom 30. September 1857 vertagt worden war. Indem wir diesen Aufforderungen nachkommen und den Fehdehandschuh aufnehmen, welchen die Vertheidiger des Zunftwesens allen Freunden einer freien wirthschaftlichen Bewegung hingeworfen haben, beginnen wir zunächst damit, einige Hauptgründe der Zunftfreunde aufzuzählen, welche sich bereits in den Motiven zu dem bremischen Gewerbegesetz-Entwurf vom Jahre 1850 verzeichnet finden. Es heißt darin: „Die Vortheile des Innungswesens, ist dasselbe zweckmäßig geordnet, liegen klar vor Augen. Sie bestehen darin, daß in sittlicher Hinsicht nichts mehr der Demoralisirung entgegenwirkt als der Geist, welcher sich von selbst in einer eng verbundenen Classe werkthätiger und in ihrem Erwerb gesicherter Menschen herausbildet; darin, daß in politischer Hinsicht der Staat in Solchen kräftige und selbstständige Bürger findet; darin endlich, daß in gewerblicher Hinsicht der Handwerksbetrieb die ihm nothwendige Selbstständigkeit bewahrt, die Ausbildung der Handwerker in der Genossenschaft allgemeiner gefördert und eine angemessene Vertretung des Gewerbestandes und der gewerblichen Interessen ohne Schwierigkeit bewirkt wird, wie auch die für die Gewerbe erforderlichen Bildungs- und Hülfsanstalten alsdann leichter zu beschaffen sein werden. — Herrscht dagegen Gewerbefreiheit, so ist sich Jeder selbst überlassen, die moralische Haltung, welche der Corporationsgeist gewährt, fehlt, der Staat ist der Gefahr, der größten, die unsere Zeit kennt: das Proletariat im fortwährenden Zunehmen zu erblicken, preisgegeben; an eine gemeinsame Vertretung der gewerblichen Interessen, gemeinsame Bildungs- und Hülfsanstalten, die getragen von dem brüderlichen und einmüthigen Streben der Genossenschaften, unter angemessener Beihülfe des Staats lebendig und segensreich wirken, ist nicht leicht zu denken; das ganze Wesen ruht auf der Basis vereinzelter Bestrebungen, wobei allerdings im Einzelnen hie und da Großes erwachsen kann, im Ganzen aber neben diesem Bedeutenden so Vieles zurückbleibt und gar nicht aufkommt, daß man sagen darf, Jenes sei des Preises, um welchen es gewonnen, nicht werth.“

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