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Hans Ostwald, „Alle Tische besetzt" (1920er Jahre)

Hans Ostwald (1873-1940) war Schriftsteller und Beobachter des Berliner Lebens von 1900 bis durch die 1930er Jahre. Im folgenden Text vermittelt er einen Eindruck des Treibens am Potsdamer Platz und im berühmten Café Josty, in dem alle Tische besetzt sind, ungeachtet der Tageszeit. Nicht alle Cafébesucher hatten sich bereits an die Mischung der Geschlechter, Alters- und sozialen Schichten gewöhnt.

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Ein matter Widerschein zittert vom Asphalt des Potsdamer Platzes über die Tische, über die Gruppen, über die reich oder auffallend gekleideten Damen, über die Gesichter der Herren. Die Sonne prallt auf den Platz hernieder und fängt sich in der weiten, dunstgefüllten Hohlgasse der Leipziger Straße, die hinter den mattgelben, mit dörrendem Laub umpflanzten Torgebäuden und dem Grün des Leipziger Platzes ihren Schlund auftut. Auf dem Platz schieben sich die Droschken, die Elektrischen, die Automobile, die kastenartigen Geschäftswagen zu einem wirren Knäuel zusammen, lösen sich, entfliehen in die einmündenden Straßen – und streben wieder dem Platz zu, wie Fliegen, die sich der verderbenbringenden Lampe nähern. [ . . . ]

Vor dem Gitter des Cafés ein buntes Hin und Her von Menschen. Junge Mädchen, schlank, leicht und luftig gekleidet. Frauen, die beim vorsichtigen Überschreiten des Platzes elegante Schuhe und reiche, flimmernde Unterkleider sehen lassen. Herren, die aus der Börse, aus vornehmen Bureaus und Geschäften kommen – und nur wenige Frauen und Männer, die Spuren ihrer Arbeit an der Kleidung tragen. [ . . . ]

Dies Bild gehört zum Café Josty. Es ist der Hintergrund.

Ohne ihn – was wäre das Café?

Erst dieser zusammenfassende Ausstrahlungspunkt des Westens von Berlin ermöglicht dies Lokal mit all seinen Reizen, seinen Menschen und seinem bunten, vielfaltigen Treiben. – Im Sommer. Nachmittags. Unter grünen Bäumen im Schatten des Hauses eine schier verwirrende Fülle von Gestalten. Wie sie eben das heutige Berlin bietet. Helle, blendende Sommertoiletten. Herren in vornehmster Straßenkleidung, mit bunten Westen, echte Panamas auf den markanten Köpfen. Auch mit Cylinder oder neuestem Filz. Alle Tische besetzt.

Zwei Damen rauschen heran. Luftige, plissierte Seide.

Matte Modefarbe. Nur die Hüte grün, in dem Saft des sommerlichen Wiesengrases. Die Gesichter frisch und erhitzt. Aber einige Falten an den Schläfen und die Fülle der Brüste und der Hüften und der frauenhafte schwere Gang, den hohe Absatze nicht ganz hinwegtäuschen, künden doch von gewissen Jahren.

Und an der sicheren Art des Auftretens sieht man, daß diese beiden Damen gewohnt sind, allein auszugehen.

Alle Blicke folgen den hohen Gestalten, die zwischen den Tischen nach leeren Plätzen suchen – und in der Nähe eines Tisches mit alten Herren freie Stühle finden. Wie sie nun so sitzen, sieht man einen leichten Puderhauch auf ihrem Gesicht, Und die Brillantohrringe funkeln wie dankbare Geschenke. [ . . . ]

Nicht nur die jungen Herren, die in der Nähe sitzen, suchen Blicke zu erhaschen und die Gestalten zu erfassen. Auch die Damen lassen ihre Augen über diese berückenden Kleider gleiten. Neid, Neugier, Erstaunen, Nachahmungssucht blicken heimlich und offen.

Und auch vom Tisch der alten Herren finden Blicke zu den beiden hinüber. Der Herr in Hellgrau, dessen rotes, aristokratisches Gesicht zwischen zwei weißlichen Bartenden glüht, weiß auf dem Gesicht der einen ein feines Lächeln hervorzurufen.

[ . . . ]

Plötzlich kommt ein großer, breitschultriger Herr vorüber. Sein knochiger Kopf mit dem graugesprenkelten schmalen Vollbart, mit dem rotfleckigen Gesicht, der starken Nase, den flackernden Augen und dem dicklippigen Mund erinnert an einen reaktionären agrarischen Parlamentsredner, der aus industriellen Gründungen Riesengewinne zog.

Die Alten grüßen ihn ehrerbietig.

Er ist ganz familiär leutselig.

Macht aber ein steifes Äußeres, als ein kleiner Herr mit scharfem Gesicht, blondem Spitzbart und spöttischem Lächeln dicht bei ihm vorübergeht. Ein aristokratischer Standesgenosse, der eine der jüngsten giftigsten Oppositionszungen im Reichstag ist und den alten Herrn auf gewisse soziale Widersprüche in dessen Leben und Reden hingewiesen hat.

Dicht an der Veranda ein Tisch mit Künstlern. Ein blonder, elegant gekleideter Jüngling, ehemaliger Jurist, jetzt schreibt er Verbrecherhumoresken. Ein schäbig gekleideter, blaßhaariger Bildhauer mit einer mädchenhaften jungen Frau. Ein Schriftsteller, mit riesiger dichter Lockenfülle, rundlichem Gesicht, aufgeworfenen Lippen, der in der Lodenjoppe den Agrarier markiert, einen prachtvollen Jagdhund bei sich hat, gibt sich wie der größte Naturfreund, kann aber nicht drei Tage ohne sein Berlin W. leben. Er schreibt die Verbrecher- und Dirnengeschichten, die schon mehr als derb sind – kommt aber aus den protzigen Straßen und luxuriösen Lokalen des Westens nur selten ins Volk. Ein Illustrator, der sich aus der Arbeiterherkunft herausgearbeitet hat und dessen eckiger Schädel und faltiger, glattrasierter Mund eine Mischung von Sportsmann und Verbrecher vortäuschen.

Unweit von ihm sitzt ein kleiner, dicker, gewöhnlich gekleideter Mann mit seiner Tochter; sie in weißem Battist, grellrote billige Blumen auf dem riesigen Hutgeflecht. Plötzlich ruft der Dicke ganz vertraulich: „Herr Fuchs! Herr Fuchs!“

Klopft dem Illustrator auf die Schultern und lotst ihn an seinen Tisch und spricht so laut, daß fast das ganze Lokal es hören kann, mit dem bekannten Künstler von den Tagen, da der im Hause des Dicken – im Südosten – oben unter dem Dache seine Künstlerlaufbahn begann.

[ . . . ]

Dicht bei einer Mutter, die mit Paketen und mehreren Schlagsahne schleckenden Töchtern dasitzt, plaudern zwei andere Mädchen ihre Geheimnisse aus: „Du, Lissi, der Offizier, den ich im vergangenen Jahr hatte, kommt zum Winter wieder auf Akademie hierher.“

„Na – und dein Geheimrat?“

„Solange der nichts merkt, laß ich den ruhig zahlen. [ . . . ] Da wäre ich ja schön dumm!“

„Wärste auch. Mein Fabrikant hat auch keine Ahnung, daß mich der kleine Japaner öfter besucht. Na – weißte ich kann doch nicht warten, bis der seine Alte mal laufen läßt. [ . . . ] Na – weißte, der hat es wirklich zu schlecht getroffen.“

Die jungen Mädchen tun, als hören sie das alles nicht. Aber die Mutter sieht sie an. So rechte wohlerzogene höhere Tochter, nach denen sich nicht zu viele Männer umsehen. Glanzlose Augen, blasse, gewöhnliche Stubengesichter reizen nicht dazu. [ . . . ]

„Nein“, sagt die Mutter, „nein, früher, als es hier noch nicht so groß war, verkehrte doch ein anderes Publikum. Da traf man noch lauter Bekannte. Leute, die was waren [ . . . ] Aber – davon wißt ihr ja nichts. Damals wart ihr ja noch Kücken. [ . . . ]“

Vorn am Gitter sitzt ein Kreis junger Männer. Übernächtigt, mit Großstadtgesichtern. Hochelegant. Etwas Rastloses, Zähes, Überhebendes im Blick. Sie sprechen von Nietzsche, von den letzten Pferderennen, von den Premieren, die für den Winter bevorstehen, kritisieren mit Kennerblicken die vorübergehenden Mädchen und Frauen – und lachen über einen ihres Kreises, der eine der Damen da draußen für eine Dame erklärt.

Laute jähe Rufe: „Abendblatt! Abendblatt!“

Und über die Gitter hinweg reichen die sonst abseits stehenden Zeitungshändler die Blätter. Wie rasend geworden, laufen sie um das volle Lokal herum, laut rufend: »Abendblatt! Abendblatt!«

Viele der älteren Herrn sehen zuerst nach dem Handelsteil. Flüchtig prüft ihn ein großer, stattlicher Mann, der sich bedächtig eine goldene Brille aufsetzt: Er will nur sehen, ob die Zeitungen richtig bringen, was er heute auf der Börse für eine Panik angerichtet hat.

Oben, in der kleinen Glasveranda, wo fast nur ältere Herren sitzen, ein junger Architekt. Mit einem Rechtsanwalt, der einen bekannten pfiffigen Kopf hat. Sie warten auf Geldgeber, die denn auch kommen. Der eine rundlich, mit treuherzig verkniffenem Gesicht, dem ein goldenes Pincenez etwas Ehrbares gibt. Der andere schwarz, bärtig, mit scheuen, glänzenden Augen: richtige Schieber.

Sie stutzen nicht wenig, als ihnen der Architekt seinen Rechtsanwalt vorstellt. Den hatten sie nicht erwartet. Und sie holen nicht die Verträge hervor, die sie schon fertig aufgesetzt hatten.

[ . . . ]





Quelle: Hans Ostwald, „Alle Tische bestezt“, in Potsdamer Platz, Drehscheibe der Welt, hrsg. von Günther Bellman. Berlin: Ullstein Buchverlag, 1997, S. 103-10.

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