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Thomas Mann, „Gegen Dickfelligkeit und Rückfälligkeit: Wunsch an die Menschheit" (1927)

Thomas Manns (1875-1955) Zwiespältigkeit hinsichtlich der Massengesellschaft sowie seine späte Unterstützung der Republik entsprangen der Spannung zwischen seinem ästhetischen Empfinden und seinen politischen Idealen. In diesem kurzen Essay, der 1927 gleichzeitig in Deutschland und Schweden veröffentlicht wurde, warnt Mann vor der wachsenden Bedrohung durch zivilisationsfeindliche politische Barbarei, die er als Konsequenz mangelnder Klugheit und Lernbereitschaft interpretiert.

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Einen Wunsch an die Menschheit, das heißt an die heutige menschliche Gesellschaft, zum neuen Jahr? Und nur einen hat man frei, da doch vieles zu wünschen wäre? Da heißt es konzentriert und im großen wünschen, um womöglich mit einem Wunsch alles Wünschbare auf einmal zu treffen. Nehmen wir uns zusammen!

Klugheit – ich glaube, das ist es. Nie, glaube ich, war sie dem Menschen – und zumal dem europäischen – notwendiger zu seinem Heil als heute. Und wenn man mich aufforderte, die Klugheit, die ich meine, näher zu bestimmen, so weiß ich es nicht besser zu tun, als indem ich sie Geistwilligkeit nenne – aus erhaltendem Sinn.

Es gibt heute nur einen Konservatismus, der seinen Namen verdient. Es ist derjenige, der unsere Zivilisation vor dem Untergang zu bewahren, sie zu »erhalten« wünscht gegen Katastrophen, die ihr drohen und die ihrer Vernichtung gleichkommen würden. Daß sie ihr drohen, sollte glaubhaft gemacht worden sein durch diejenigen, die sie bereits getroffen haben, die aber nur das Vorspiel eines Aufräumens sondergleichen werden gewesen sein, wenn die menschliche Gesellschaft, und namentlich die europäische, vermeinen sollte, mit jenen Zwischenfällen, die sie heimgesucht und von denen sich ziemlich rasch zu erholen sie das behagliche Gefühl hat, sei es getan und sie könne sich in betreff der Zukunft einem Optimismus überlassen, der ihr jede Dummheit, jede Dickfelligkeit und Rückfälligkeit, jeden tölpelhaften Übermut und jedes alberne Spiel mit dem Feuer gestatte. Dieser in weiten Kreisen der Menschheit verbreitete Optimismus ist vollkommen fehlerhaft, und zwar aus folgendem Grunde.

Zu allen Zeiten liegt zwischen der Wirklichkeit, der Materie, dem Zustande, in dem die große Mehrzahl der Menschen noch beharrt, aus dem sie sich zögernd in neue Zustände hinüberwandelt, und dem Geiste, dem eigentlich von den Spitzen der Menschheit schon erreichten Erkenntnisstande eine beträchtliche Distanz. Die Materie ist zäh, schwerfällig, mißtrauisch, gezwungenermaßen langsam und vorsichtig, durch sich selbst gehemmt, der Geist beschwingt und behende, leidenschaftlich, ungeduldig, zum Überdruß geneigt: oft ist es vorgekommen, daß er mit einer neuen Idee schon »fertig« und zu Neuem und Übernächstem vorzustoßen mindestens versucht war, bevor die Materie ihn im entferntesten eingeholt und sich nach dem Erkenntnisstande einzurichten begonnen hatte, den wieder zu verlassen ihn bereits gelüstete; ja, all seine Moral, seine Selbstzucht, seine Sozialität, seine Güte besteht eigentlich darin, sich nicht an Ideen zu langweilen, bevor sie verwirklicht sind. Denn eine Wirklichkeit, welche jeder Fühlung mit dem Geiste verlustig gegangen wäre, eine geist- und gottverlassene, heillos zurückgebliebene Wirklichkeit, deren Zustände zu dem »eigentlich«, das heißt geistig erreichten Erkenntnisstande ein allzu krasses Mißverhältnis aufwiesen, wäre gefährdet – wir drücken uns kühl und gelassen aus, ihr drohte Unheil, sie wäre gewissen, naturgesetzlich-dynamischen Wirkungen ausgesetzt, die das Erzeugnis übertriebener und ungesunder Spannungsverhältnisse sind.

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