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Otto Bauer, „Das Wesen der Rationalisierung" (1931)


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Das Wesen der Rationalisierung

Wir haben eine Übersicht über die Tatsachen der Rationalisierung gewonnen. Jetzt erst können wir uns des Wesens, des Sinnes der Rationalisierung bewußt werden.

Das Wort Rationalisierung wird in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Zunächst bezeichnete es einen einmaligen geschichtlichen Vorgang. Als das Deutsche Reich nach der Inflationskatastrophe von 1923 zum stabilen Geldwert zurückkehrte, als mit der Stabilisierung des Geldwertes eine Absatzkrise über die deutsche Industrie hereinbrach, mußte sich die deutsche Industrie auf die veränderten Absatzbedingungen umstellen. Damals lief durch die deutsche Unternehmerschaft und ihre industrielle Bürokratie die Parole: „Unsere Betriebe sind veraltet! Wir sind nicht konkurrenzfähig! Wir müssen unsere Betriebe rationalisieren!“ Die deutsche Industrie mußte die technische Entwicklung nachholen, die die Vereinigten Staaten seit 1914 durchlaufen hatten. Und mit der technischen Erneuerung des deutschen Produktionsapparats ging Hand in Hand die Entwicklung der industriellen Gemeinschaftsarbeit, die Einführung der neuen Verfahren zur Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit, die Normung und Verwissenschaftlichung der Betriebsführung. Diesen ganzen Prozeß ruckhafter, sprunghafter Anpassung der deutschen Industrie an ihre neuen Existenzbedingungen, der sich in den Jahren 1924 bis 1929 vollzog, faßte man als Rationalisierung zusammen. Dieser Sprachgebrauch wurde auch von anderen Nationen, deren Volkswirtschaft ähnlicher Umstellungsprozesse bedurfte, übernommen.

Die Rationalisierung schuf sich selbst ihren Markt. Da die ganze deutsche Industrie technisch erneuert wurde, da überall neue Betriebsanlagen errichtet, die alten umgebaut und neue Maschinen aufgestellt wurden, war der Bedarf an Baustoffen, Maschinen, Werkzeugen, Eisen sehr groß. Die Industriezweige, die Produktionsmittel erzeugen, hatten guten Absatz. Da sie wachsende Arbeitermassen zu steigenden Löhnen beschäftigten, erweiterte sich auch der Markt der Industrien, die Konsumgüter erzeugen. So wurde im Verlauf des Jahres 1926 die Wirtschaftskrise, die der Stabilisierung der Mark gefolgt war, überwunden. Die Jahre 1926 bis 1928 waren die Jahre der großen Rationalisierungskonjunktur. Es war die Zeit, in der der deutsche Kapitalismus glaubte, durch die Rationalisierung die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Niederlage schnell überwinden zu können; die Zeit, in der der allgemeine wirtschaftliche Optimismus es den deutschen Arbeitern und Angestellten erleichterte, eine bedeutende Erhöhung ihrer Löhne und Gehälter durchzusetzen; die Zeit schneller Hebung der Lebenshaltung des deutschen Volkes; die Zeit der Befestigung der deutschen Demokratie; die Zeit, in der das deutsche Volk der friedlichen Außenpolitik Stresemanns willig Gefolgschaft leistete.

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