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„Zum Wahlausfall" (5. Mai 1924)


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Zum Wahlausfall

P.L. Es wird noch einige Zeit dauern, bis das vollständige Resultat der Wahl vorliegt. Die bisher bekannt gewordenen Zahlen lassen erkennen, daß die allgemeine Erwartung über den Wahlausfall sich bestätigt hat und daß die radikalen Flügel gestärkt worden sind.

Immerhin ist diese Stärkung nicht so, daß die Bildung einer auf kräftiger Mehrheit beruhenden Regierung irgendwie in Frage gestellt würde. Im heutigen Deutschland haben die Reichstagswahlen auch vom Standpunkt der Sozialdemokratie nicht mehr die Bedeutung, die Friedrich Engels einst ihnen zuschrieb, daß sie nämlich der revolutionären Arbeiterklasse Gelegenheit gäben, sich zu zählen. Der große „Kladderadatsch“, auf den man damals zählte, ist inzwischen eingetreten, wenn auch in ganz anderen Formen, unter ganz anderen Verhältnissen und vor allem mit ganz andern Konsequenzen, wie die Sozialdemokratie damals annahm. Heute bestimmt sich nach der Zusammensetzung des Reichstages auch die Zusammensetzung des Kabinetts, und die Zeiten, wo die Wahlen eine Art revolutionärer Algebra darstellten, sind endgültig vorbei.

Nur muß der Knorr den Knubben hübsch vertragen, wie es bei Lessing heißt, und die Parteien, die durch ihre Stärke den Anspruch erheben dürfen, im Reichskabinett vertreten zu sein, dürfen nicht deshalb den Eintritt in den Kreis der Verantwortung ablehnen, weil ihnen die Nase des Nachbarn nicht gefällt. In Deutschland ist man gewöhnt, wenn von Parlamentarismus die Rede ist, nach England zu blicken und im dortigen Zweiparteisystem die natürliche Voraussetzung dieser Regierungsform zu erblicken. In Wahrheit beruht dieses Zweiparteiwesen auf dem gesellschaftlichen Ausnahmecharakter der Insel, der sich in seiner historischen Eigenart nur so lange halten konnte, wie die weltbeherrschende Stellung Englands unerschüttert blieb und die Regierung des Landes eine beiläufige Beschäftigung vornehmer Leute blieb, die von ihren Fuchsjagden und Portweingelagen ein wenig Zeit für den „Staat“ übrig behielten. Sobald durch die Weltmarktkonkurrenz diese Stellung Englands erschüttert war, erhoben sich die sozialen Klassengegensätze, und das Aufkommen der Arbeiterpartei und ihr Eintritt in die Regierung – eine Sache, die noch vor wenigen Jahren so unvorstellbar war, wie zur Zeit des Zarismus die russische Revolution – hat dem Zweiparteiensystem im klassischen Lande des Parlamentarismus ein Ende gemacht. England bewegt sich also in dieser Hinsicht in der Richtung auf kontinentale Verhältnisse. Immerhin ist die Vielparteilerei, die wir in Deutschland haben, bei weitem zu stark. Wir tragen die Spuren unserer geschichtlichen Entwicklung und die

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