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Oscar Müller, „Volk und Wahl" (20. Januar 1919)


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Volk und Wahl

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Die Erfahrungen der letzten Monate vermittelten uns diese Erkenntnis mit fast aufdringlicher Deutlichkeit, so daß uns kaum Genugtuung über politische Reifung, sondern fast nur tiefe Reue darüber erfüllen kann, daß wir solcher Prüfungen bedurften, um das Wesen des modernen Staates zu erkennen. Umso mehr gilt es, festzuhalten, was wir in diesen trüben Lebensstunden der Nation hinzugelernt haben. Die Verachtung des Parlaments gehörte einst fast zum Stolz des Deutschen. Auch in andern Staaten war Kritik, und nirgends war sie vielleicht so berechtigt wie bei uns, so sehr herausgefordert durch die Leistungen der Vertreter für die Vertriebenen. Aber abgesehen davon, daß wir im alten Parlament nur unsere eigene politische Unfähigkeit verhöhnten, wissen wir jetzt erst, daß das Parlament nicht eine außerhalb des Volkes oder über ihm stehende Einrichtung, sondern ein Stück seiner selbst ist, eine politische Lebensäußerung, die schlechthin als das ausschlaggebende Symptom des Staatslebens angesehen werden muß. Wenn also in besseren Zeiten wieder Neigungen auftreten sollten, - mögen sie von rechts oder von links kommen – die Unzulänglichkeiten des Parlaments zur Verachtung der Institution zu steigern und den Blutstrom von Nation zur Nationalvertretung zu vergiften, so wollen wir uns daran erinnern, daß wir einst die Waffen gegen einander kehren mußten, um uns das geschmähte Gut der Volksvertretung als einzige Rettung aus tiefster Not zu sichern. Der innere Zerfall des Reiches, der einsetzte, als Landesregierungen und Landesparlamente als erste Gabe der Revolution ihre volle staatliche Souveränität entgegennahmen, und der kein Halt fand, als sich zeigte, daß eine Zentralregierung ohne Zentralparlament keine einigende Gewalt darstellt, wurde bald das Negativ, in dem man das positive Wertbild des Reichtags trauernd erkannte. Wenn die Zerstörung nicht mit einem Schlage eintrat, so verdanken wir dies neben der bewussten Treue der großen Volksschichten nur dem mechanischen Weiterlaufen der Reichsmaschine. Aber mit ziemlicher Sicherheit ist der Zeitpunkt vorauszubestimmen, in dem diese aufgespeicherte Kraft versagen würde: mit der endgültigen Liquidation des Krieges, welche die Opfer Deutschlands festsetzen wird, würde beim Fehlen eines einigenden Reichsparlaments die Maschine stoppen.

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Quelle: Oscar Müller, „Volk und Wahl“, Deutsche Allgemeine Zeitung, 20. Januar 1919.

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