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Programm der Sozialdemokratischen Partei (1921)

Zu Beginn der Weimarer Republik war die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) die größte politische Partei. Während sie formal marxistisch ausgerichtet war, war die Partei seit der Jahrhundertwende von Meinungsunterschieden zwischen Reformern und Radikalen zerrissen worden. Unterstützt wurde sie in erster Linie von Männern und Frauen der Arbeiterklasse, deren Stimmen im Wilhelminischen Deutschland unterrepräsentiert waren. Sie war das größte und einflussreichste Mitglied der “Weimarer Koalition”, der ersten Regierung der Weimarer Republik. Die SPD trat für den gemeinsamen Kampf gegen Klassenprivilegien und –vorrechte ein und forderte gleiche Rechte und Verpflichtungen für alle, ungeachtet des Geschlechts oder der Rasse. Darüber hinaus verlangte die SPD eine Transformation des Kapitalismus zum Sozialismus. Die klassenbezogene Rhetorik der SPD schränkte ihren Einfluss auf nationaler Ebene ein. Ihre Botschaft verfing bei den Deutschen jenseits der Arbeiterklasse nicht, und viele Deutsche glaubten, die Sozialdemokraten seien für den „Dolchstoß” verantwortlich, der angeblich zur deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg geführt habe. Obwohl die SPD sich bemühte, ihr Bekenntnis zu Demokratie und zum Republikanismus zu betonen, brachten die deutschen Konservativen die Sozialdemokratie oft absichtlich mit dem revolutionären Marxismus der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) oder der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) zusammen und beschworen Bilder eines bolschewikischen Terrors in Deutschland herauf. Das Parteiprogramm der SPD wurde erstmals am 21. September 1921 in Görlitz präsentiert.

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Görlitz, 23. September 1921

„Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land. Sie erstrebt die Zusammenfassung aller körperlich und geistig Schaffenden, die auf den Ertrag eigener Arbeit angewiesen sind, zu gemeinsamen Erkenntnissen und Zielen, zur Kampfgemeinschaft für Demokratie und Sozialismus.

Die kapitalistische Wirtschaft hat den wesentlichen Teil der durch die moderne Technik gewaltig entwickelten Produktionsmittel unter die Herrschaft einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Großbesitzern gebracht, sie hat breite Massen der Arbeiter von den Produktionsmitteln getrennt und in besitzlose Proletarier verwandelt. Sie hat die wirtschaftliche Ungleichheit gesteigert und einer kleinen, in Überfluß lebenden Minderheit weite Schichten entgegengestellt, die in Not und Elend verkümmern. Sie hat damit den Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung gemacht.

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Die Sozialdemokratische Partei kann sich aber nicht darauf beschränken, die Republik vor den Anschlägen ihrer Feinde zu schützen. Sie kämpft um die Herrschaft des im freien Volksstaat organisierten Volkswillens über die Wirtschaft, um die Erneuerung der Gesellschaft im Geiste sozialistischen Gemeinsinns. [ . . . ]

Sie kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Sie führt diesen Kampf in dem Bewußtsein, daß er das Schicksal der Menschheit entscheidet in nationaler wie in internationaler Gemeinschaft, in Reich, Staat und Gemeinde, in Gewerkschaften und Genossenschaften, in Werkstatt und Haus.

Für diesen Kampf gelten die folgenden Forderungen:

Wirtschaftspolitik. Grund und Boden, die Bodenschätze sowie die natürlichen Kraftquellen, die der Energieerzeugung dienen, sind der kapitalistischen Ausbeutung zu entziehen und in den Dienst der Volksgemeinschaft zu überführen. Gesetzliche Maßnahmen gegen die Extensivierung oder das gänzliche Unbenutztlassen landwirtschaftlicher Bodenflächen oder deren Verschwendung zu privaten Luxuszwecken. Kontrolle des Reichs über den kapitalistischen Besitz an Produktionsmitteln, vor allem über die Interessengemeinschaften, Kartelle und Trusts. [ . . . ]. Ausgestaltung des wirtschaftlichen Rätesystems zu einer Vertretung der sozialen und wirtschaftspolitischen Interessen der Arbeiter, Angestellten und Beamten.

Sozialpolitik. Einheitliches Arbeitsrecht. Sicherung des Koalitionsrechts. Wirksamer Arbeiterschutz: Gesetzliche Festlegung eines Arbeitstages von höchstens acht Stunden, [ . . . ] Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche. [ . . . ] Eine wöchentliche ununterbrochene Ruhepause von mindestens 42 Stunden. Jährlicher Urlaub unter Fortzahlung des Lohnes. [ . . . ] Umbau der sozialen Versicherung zu einer allgemeinen Volksfürsorge. Auf diesen Grundlagen Förderung des internationalen Arbeiterschutzes.

Allgemeines Recht der Frauen auf Erwerb.

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Planmäßige, den sozialen Bedürfnissen der Arbeiterklasse angepaßte Bevölkerungspolitik. Besondere Fürsorge für kinderreiche Familien.

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Verfassung und Verwaltung. Sicherung der demokratischen Republik. Festigung der Reichseinheit. Ausbau des Reichs zum organisch gegliederten Einheitsstaat. [ . . . ] Überordnung der demokratischen Volksvertretung über die berufsständischen Organisationen. Demokratisierung aller staatlichen Einrichtungen. Vollständige verfassungsmäßige und tatsächliche Gleichstellung aller über 20 Jahre alten Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts, der Herkunft und der Religion.

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Religion ist Privatsache, Sache innerer Überzeugung, nicht Parteisache, nicht Staatssache: Trennung von Staat und Kirche.

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Völkerbeziehungen und Internationale. Internationaler Zusammenschluß der Arbeiterklasse auf demokratischer Grundlage als beste Bürgschaft des Friedens.

Ein Völkerbund, der kein die Völkerbundsatzungen anerkennendes Volk ausschließt und in dem die Parlamente aller Länder durch Delegierte nach der Stärke der Parteien vertreten sind. Ausbau des Völkerbundes zu einer wahrhaften Arbeits-, Rechts- und Kulturgemeinschaft. [ . . . ] Internationale Abrüstung unter Garantie des Völkerbundes, Herabsetzung der Wehrmacht in allen Staaten auf das Maß, das die innere Sicherheit der Staaten und die Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen des Völkerbundes erfordert. Unterstellung aller Kolonien und Schutzgebiete unter die Oberhoheit des Völkerbundes. [ . . . ] Revision des Friedensvertrages von Versailles im Sinne wirtschaftlicher Erleichterung und Anerkennung der nationalen Lebensrechte.“





Quelle: Programm der Sozialdemokratischen Partei (1921), in Deutsche Parteiprogramme 1861-1954, herausgegeben von Dr. Wolfgang Treue, Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Band 3. Göttingen, Frankfurt, Berlin: Musterschmidt Wissenschaftlicher Verlag, 1955, S. 97-102.

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