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Heinrich Mann, "Rede zur feier der Verfassung in der Dresdener Staatsoper" (11. August 1923)


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Hochgeehrte Versammlung, liebe Freunde!

Wir sollen feiern, und die Stunde ist kritisch. Wir sollen die Verfassung feiern und wissen doch nicht: was ist inzwischen geworden aus der Verfassung? Was wird aus ihr noch werden? Das Jahr 1919 ist lange her.

Suchen wir uns zu vergegenwärtigen, wenn anders wir es heute noch können: was sollte die Verfassung einst sein? Es sind doch Ideale hineingearbeitet worden im Jahre 1919. Die Revolution, ob sie nun ganz freiwillig kam oder nicht, hatte in jedem Fall die Köpfe freier gemacht. Vieles schien auf einmal möglich und naheliegend, was nicht nur die Herrschenden, sondern auch die große Mehrheit niemals sehr dringlich gefunden hatte. So die Vereinheitlichung Deutschlands, ohne übertriebene Rücksichten auf Eigenarten und Sonderrechte. So die Freiheit im Innern, was nur heißen kann: es sollte dauernd im Sinne der meisten regiert werden, nie wieder zum Vorteil und Vorrecht weniger.

Im Sinne der meisten, also friedlich, ohne Kriegsgesinnung. Im Sinne der meisten, also ausgleichend, auch den Besitz. Konsequenter Sozialismus war in Weimar nicht die treibende Kraft, aber soziale Gesinnung hat doch mitgewirkt. Man wollte keine gefährlichen Kapitalanhäufungen. »Freie Bahn dem Tüchtigen«, und nicht auf seinem Wege jene absichtlichen Hindernisse, wie Vorrechte oder der alles aufsaugende Reichtum. Das war der Geist der Weimarer Verfassung. Darum feiern wir sie. Keineswegs war es der Geist einer republikanischen Plutokratie.

Der Geist der Verfassung ist inzwischen verkannt, verleugnet, entstellt, er ist ihr fast ausgetrieben worden. Der kriegstolle Nationalismus treibt es wieder wie je und reicht schon wieder bis an den Sitz der Macht, die jetzt doch dem Volk entstammt und ihm Rechenschaft schuldet. Das Kapital ist erst jetzt wahrhaft überwältigend geworden. Seine Herrschsucht vergreift sich erst jetzt ganz offen an jedem einzelnen von uns, wie am Staate selbst. Wir feiern darum erst recht die Verfassung, die dies alles nicht mehr kennen wollte, die befreien und Menschlichkeit verbreiten wollte. Sie hat es noch nicht gekonnt. Aber sie soll es einst können.

Welche Gründe hat die Reaktion? Sie alle werden als ersten den nennen, den auch ich nennen will: die äußere Bedrängung durch Nachbarn. Ist ein Reich nicht einmal von fremden Heeren frei, kann es auch innerlich nicht frei sein. Das ist unbedingt wahr, – auch wenn hinter dieser naheliegenden Tatsache etwa noch tiefere Tatsachen lägen.

Dazu kommt als zweiter Hauptgrund die Not. Wie weit soll sie noch gehen? Wenn seine Kinder Hungers sterben, hat ein Volk nicht den Kopf frei, sich gegen das politische Unrecht, das ihm geschieht, zu verteidigen. Das größte Unrecht ist eben, daß seine Kinder sterben. Wenn niemand des nächsten Tages sicher ist, sind die paar Überreichen, Übermächtigen, die alle und jeden in ihre Gewalt bringen wollen, ihrer Sache um so sicherer.

Übrigens wirkt die seelische Erschöpfung nach, die den Krieg begleitet hat. Die ist überall da, in den besiegten Ländern höchstens nackter. »Was frage ich viel nach meinem Seelenheil«, sagt ein Volk, sogar ein nichtbesiegtes, wenn irgendein handfester Kerl ihm Brot verspricht und dafür zunächst einmal ihm seine Freiheit nimmt.

In einem Industrievolk ist es kein politischer Diktator, es sind die größten Industriellen, die sich die allgemeine Erschöpfung zunutze machen und ganz sacht, oder nicht einmal sacht, die gesamte Wirtschaft, den Staat selbst und noch darüber hinaus die Denkgewohnheiten der meisten in ihre Hand bringen.

Liebe Freunde, dies ist das unheimlichste unserer Erlebnisse. Putsche und Umwälzungen – nun gut, wir sterben daran oder werden im Gegenteil stärker. Das wird sich finden. Aber wehrlos ausgesogen werden wie ein eingesponnenes Insekt?

Furchtbar. Ein niedergeworfenes, geschwächtes Volk verliert auch noch das ihm gebliebene Blut der Armut tropfenweise an einige unternehmende Individuen, die die Lage begriffen haben und sie bedenkenlos ausnützen. Zwei Milliarden Goldmark jährlich, so viel, wie wir an England zu zahlen hätten und nicht zahlen können, werden uns von den Ruhrindustriellen für Kohle abgepreßt, und das ist erst die Grundlage beim Aufbau ihres Geschäftes.

Für zwei Milliarden in Gold kauft man bei uns die Welt. Man kann sie aber auch mit geliehenem Gelde kaufen, das man zurückzahlt, wenn es entwertet ist. Der Aufkäufer errafft Stück für Stück die deutsche Welt, läßt sie für sich arbeiten und führt ausländischen Unternehmungen den Gewinn zu. Viel mehr noch! Deutsche Unternehmungen, gerade die, um die von den deutschen Arbeitern mit solcher Hingabe gekämpft wird, enthalten schon feindliches Kapital.

Sehen Sie nur, wir arbeiten doppelt für das Ausland. Erstens zugunsten der Sieger, was noch hinginge, denn auch sie haben geopfert und gelitten; aber zweitens in die Taschen einiger einheimischer Aufkäufer, Enteigner, Substanzentzieher, – und was haben die je geopfert und gelitten? Über wen haben die gesiegt? – Ach ja, auch sie über uns.

Liebe Freunde, die Diktatur, von der man spricht, muß nicht erst kommen, und käme der Name, er müßte uns keinen Eindruck mehr machen, denn sie selbst ist schon da, es ist die Diktatur der Gierigsten. Die diktieren konkurrenzlos. Denn scheinbar ist nicht nur das Seltenste, sondern auch das Härteste, was es bei uns heute gibt, das Hartgeld. In dem Zustand unseres Landes zählt scheinbar keine andere Macht, nicht Verdienste, nicht geistige Führerschaft, nicht Können – darüber sind wir hinaus. Auch nicht so sehr die Wucht und Willensgewalt der arbeitenden Massen. Macht hat nur das Geld in einem Lande, wo kaum noch Geld ist.

Unsere Schuld, unsere sehr große Schuld! Warum haben wir das geschehen lassen? Das Geld herrscht sonst nur unter den gerade entgegengesetzten Umständen, in Amerika, wo sehr viel davon vorhanden ist, wo jeder hoffen kann, welches zu machen. Dort herrscht, meinetwegen, in Gestalt des Geldes die menschliche Hoffnung. Bei uns herrscht, solange wir das Geld herrschen lassen, nur unsere eigene Verzagtheit.

Erkennen wir dies! Raffen wir uns auf! Ich halte mich nicht gern und nicht zu lange bei Individuen auf, die nur so wenige sind und denen es im Grunde auch nicht gut geht. Denn wenn sie uns nicht passen, weil sie zu reich sind, passen wir gewiß ihnen nicht, weil wir zu arm sind, und es kann kein Vergnügen für sie sein, zu fühlen, daß unter ihrer Herrschaft nichts gedeiht, außer ihnen selbst.

Der Dollar steigt in die vielen Millionen. Das hat schließlich auch der von unsern großen Wirtschaftsführern so tief verachtete Bolschewismus gekonnt. Aber der wußte warum, und sie wissen gar nichts. Sie konnten bisher keine richtigen Löhne zahlen. Das sollte exportunfähig machen. Aber den Dollar können sie immer so hoch bezahlen, wie gerade ihre Art von Wirtschaft ihn hinauftreibt.

Lassen wir sie! Zuletzt sind sie weniger schuldig als wir. Sie folgen einfach ihrem gierigen Trieb, was weiter kommt, schert sie nicht. Wir aber in unsrer Gesamtheit, als lebendes, die Zukunft erarbeitendes Geschlecht sind doch wirklich zu ganz andern Ansprüchen berechtigt. Haben wir es denn nötig, uns die erbärmlichsten Holzwege führen zu lassen von einigen zufällig aufgeschwemmten Kapitalkolossen?

Es ist doch offenkundig, daß, wenn nicht immer ihre Interessen, die Interessen reicher Privatleute, die sich »die Wirtschaft« betiteln, vorangingen, unser Staat mitsamt der Wirtschaft anders dastehen könnte – und auch unsere auswärtigen Beziehungen nicht ganz dieses unfreundliche Gesicht haben müßten.

Wie kommt das ganze Unglück mit Frankreich denn zustande? Wir leiden natürlich an dem unvernünftigen Friedensvertrag, der in jedem Sinne unproduktiv ist. Vor allem ist er menschlich unergiebig, er läßt bei dem Volk, das für seine Gläubiger arbeiten soll, keine Genugtuung, keine Würde aufkommen. Daher versagt er auch ökonomisch.

Er ist schwer erfüllbar. Wollten wir ihn aber einigermaßen erfüllen, dann müßte zusammengehalten werden, nicht verschleudert, dann dürfte der deutsche Besitz nicht in die Hände von Exporteuren gelangen, im Gegenteil müßte ihr eigener Besitz, der ohnehin der wichtigste ist, vor allem andern erfaßt werden. Was geschieht aber? Er wird zuletzt oder gar nicht erfaßt. Infolgedessen entgeht auch sonst der Besitz den Pflichten, die das Staatswohl fordert.

Das ist sträfliche Schwäche. Wir sind nicht betrügerische Bankrotteure, der Gläubiger irrt. Wir sind nur in sträflicher Weise entmutigt. 1919 schrieben wir in die Verfassung etwas über Vergesellschaftung privater wirtschaftlicher Unternehmungen, über Beteiligung des Reiches an diesen Unternehmungen, und daß allermindestens die Bodenschätze unter die Aufsicht des Staates kommen sollten. Steht das 1923 nicht mehr in der Verfassung?

Ach! ein Artikel der Verfassung verlangt auch, der selbständige Mittelstand sei gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen. Ich merke nichts. Es wäre kein Wunder, wenn alle um ihr verfassungsmäßiges Recht Betrogenen sich endlich zusammenfänden, um es sich zu holen.

Der Gläubiger seinerseits sieht nur: wir verschleudern die Masse. Er bereitet den Einmarsch vor. Er wartet noch, solange eine Regierung im Reich ist, der er guten Willen nicht absprechen kann. Kaum aber treten Minister in Berlin auf, die er nur für Agenten des zahlungsunwilligen Aufkäufers hält, da rückt er ein. Jetzt ist der Aufkäufer fein heraus. Er ist der Patriot.

Er soll es sein. Es gibt Patrioten aller Art. Der eine denkt an sein Geschäft, ein anderer an Staat und Volk, an das geistige und das wirtschaftliche Schaffen seines Landes, die es anderen Ländern friedlich und segensreich verbinden sollen. Nun gibt es Lagen, in denen diese Patrioten mit jenen wohl oder übel zusammengehen müssen. Aber ein Unterschied bleibt. Die Arbeiter, die jetzt die Kohlengruben verteidigen, tun das, um den Bestand des Reiches zu sichern, sie tun es nicht, um die Prozente zu drücken, mit denen die Franzosen beteiligt werden sollen an den Gruben.

Der französische Einfall ist auf alle Fälle hart und keineswegs ehrenvoll, trotz seiner für niemand rühmlichen Vorgeschichte. Aber wenn seit dem Ruhreinfall schon wieder der Nationalismus in Deutschland obenauf ist, dann wollen wir uns doch klar machen, wem wir ihn und den Ruhreinfall zu verdanken haben: dem widerrechtlich aufgehäuften Kapital. Echte Vaterlandsliebe, die ebenso gut auch Menschenliebe heißen kann, braucht Besinnung, braucht Rechtlichkeit. Aber im Unrecht, in der Zerrüttung gedeiht Nationalismus.

Es ist belanglos, ob Inhaber von Kohlengruben die nationalistischen Verbände direkt bezahlen. Abhängig sind diese auf jeden Fall von den reichen Herren. Der Nationalismus und seine Verbände könnten unmöglich die heutige große Rolle spielen; sie wären Privatsache, wären öffentlich gar nicht vorhanden ohne die schlechte Luft, die diese naturwidrigen Kapitalausschweifungen wie ein Leichenhaufen um sich verbreiten; denn wirklich sind sie getötete Volkskraft. Der Nationalismus wäre nicht vorhanden ohne die auswärtigen Verwicklungen, in die uns unser paradoxaler Hochkapitalismus stürzt, nicht vorhanden ohne die Not, die zu allem fähig macht.

Der Nationalismus ist das Geschöpf unserer Schwäche, die zuerst auf den Ausgleich des Besitzes verzichtet hat. Darauf hin kam auch er. Alles und jedes auf das blinde Schicksal und den bösen Feind abwälzen, ist billig, es ist zu billig für diese teuern Zeiten. Aber gewissen Klassen ermüdeter, auch geistig ermüdeter Menschen ist gerade noch beizubringen, der Franzose wolle Deutschland zerstückeln. Wie man seiner bösen Absicht – angenommen, sie bestehe wirklich – jeden Vorwand, jede Handhabe hätte nehmen können, wie man es hätte verhindern müssen, daß die böse Absicht überhaupt aufkam, das wird nicht gefragt.

Der Ruhreinfall ist aber auch französische Schwäche. Sehen wir die Dinge nur richtig! Dies Frankreich, das sich stark stellt und Gewalttaten unternimmt, ist von Schwäche befallen wie wir. Wenn das für uns ein Trost ist, haben wir ihn. Frankreich leidet an Erschlaffung des Freiheitssinnes, wie gegenwärtig die meisten Völker und wie auch wir. Frankreich läßt sich von einer Minderheit von Nationalisten zu Taten zwingen, denen weder die Denkenden noch die arbeitende Masse zustimmen. Und auch wir sind von einer Minderheit bezwungen. Alles ist daran gelegen, daß der bessere Geist beider Völker wieder zu Wort kommt, dann verständigen sie selbst sich und nicht nur ihre Großkapitalisten.

Der bessere Geist jedes Volkes will Freiheit; und das bedeutet sowohl inneren Ausgleich wie internationale Gerechtigkeit. Aus der Weimarer Verfassung spricht der bessere Geist Deutschlands. Wir müssen ihn wieder hören lernen. In Weimar 1919 lebte doch republikanische Begeisterung. Die müssen wir mitwirken lassen in unserem öffentlichen Erleben, nicht allein unsere wirtschaftliche und politische Not. Gerade nur Begeisterung für Ideen kann fertig werden mit der Not.

Die Verfassung ist doch nicht zufällig in Weimar beschlossen worden. Weimar, das hieß: wir wollen künftig nach erkannten Ideen leben. Der absolutistische Zwang lag ganz nahe hinter uns. Wir schwuren ihm ab. Hieß das nur, daß er unter anderem Namen sogleich uns wieder einfangen sollte? Statt des Militärabsolutismus die unbeschränkte Kapitalmacht?

Die ernstesten Republikaner, die ersten, die es waren hierzuland, sind enttäuscht von dieser Republik – das muß eingestanden werden –, und es wäre kein Glück für diese Republik, wenn sie gerade diese Freunde verlöre. Von Zeit zu Zeit wird versichert, die Verfassung und die staatliche Ordnung werden unter allen Umständen aufrecht erhalten werden. Nun, es kommt darauf an, was jemand unter staatlicher Ordnung versteht. Wenn jemand auf den Einwand: »Der Reichstag, Exzellenz, ist gegen Sie« –, geantwortet haben soll: »Aber die Reichswehr ist für mich«, dann mag seine Art staatlicher Ordnung freilich gesichert sein, die Verfassung aber hätte das Nachsehn. Sollen als verfassungsmäßig Regierungen gelten, die die Macht, das Volksvermögen, den Staat selbst in die Hände einiger Weniger hinüberspielen und sehenden Auges das Chaos begünstigen? Und soll die Reichsexekutive vielleicht vorbereitet werden gegen solche Regierungen, die den Staat als freien Volksstaat verstehen möchten? Es wird doch täglich deutlicher, daß einzig als freier Volksstaat das Reich noch fortbestehen kann.Von dem Zerfall des Reiches, der als letztes Ergebnis einer schamlosen Wirtschaft droht, spricht man überall, nur freilich nicht dort, wo gesprochen werden müßte, im Reichstag.

Liebe Freunde, wenn man die letzten drei Tage im Reichstag mit erlebt hat, war man in einem Haus der Gespenster. Man hat so etwas noch nicht gesehen. Eine Gespenstersonate, eine tragische Groteske dieser Art hat noch kein Theater gespielt. Da tritt ein Kanzler auf, dem entgegengebrüllt wird: »Lebender Leichnam!« »Bankrotteur!« Er hört das, keine Miene zuckt, und er redet, er erzählt Märchen, er gibt leere Versprechungen. Wenn er anfängt zu reden, hat der Dollar hoch gestanden, wenn er aufhört, steht er höher. Dann kommt ein anderes Gespenst, ein kaiserlicher Minister, der im Kriege gesagt hat: »Sie können nicht fliegen, sie können nicht schwimmen, sie werden nicht kommen«, und damit die Amerikaner gemeint hat. Auch dieses Gespenst quatscht und scheint noch zu leben. Damit kein Kommunist sprechen kann, läßt man den Minister des Auswärtigen über den Völkerbund plaudern, und draußen, draußen ist das Geschrei der alleräußersten Not, draußen droht der letzte Zusammenbruch. Das sind lauter Lebenswellen, die an dieses verschlossene Haus überhaupt nicht herankommen. Wenn selbst ein Revolutionär spricht, hier erstickt es. Die Arbeiter schicken Delegationen, wünschen empfangen zu werden, was doch eine Unterordnung unter diesen Reichstag bedeutet. Nein! Wissen Sie, was entsteht in diesem Reichstag? Ein wahnsinniges Gelächter. Diese Gespenster lachen in einer Scheinsicherheit wie im Grabe, als ob rings um sie her ein kaiserliches Heer von zwölf Millionen stände. Wenn man das erlebt hat, dann weiß man: von dort ist ein Wort, gar eine Tat des Lebens überhaupt nicht zu erwarten.

Hier aber wollen wir doch von dem Brennendsten sprechen und wollen das Wort wagen, daß schlimmsten Endes der Zerfall des Reiches droht, daß die Klassen, deren Gier und Selbstsucht es dahin gebracht haben, diesen Zerfall, wenn er wirklich käme, nicht mehr aufhalten könnten. Wer kann das noch? Nur die schaffenden Stände, das Volk, das sein Reich mehr liebt, als Unternehmungen im Auslande. Dieses Volk muß eisern, in jedem Sinn eisern zusammenhalten, aus dieser Prüfung könnte dann freilich sein größter menschlicher Gewinn kommen.

Wir sollen feiern. Der Geist der Weimarer Verfassung erlaubt jedes Vorwärts, jeden menschlichen Gewinn, aber er verbietet Zurückweichen und Verluste an Humanität.

Der Mensch – worauf sonst käme es an. Ist etwa der Staat Selbstzweck, oder die Wirtschaft oder Interessenkämpfe, womit das Leben hingeht? Anfang und Ziel ist der Mensch. Der Staat, die Wirtschaft sind tauglich oder verfehlt, je nachdem sie den Menschen fördern oder hemmen. Humanität im Sinne Weimars, Menschenpflege, sie sollte der Kern der Politik sein.

Alles wäre gewonnen, wenn Führer durchdrängen, die so viel Entschlossenheit, Unbeirrbarkeit und Strenge für das Richtige aufbrächten, wie das Falsche jahraus, jahrein in seinem Dienste sieht.

Folgt Führern, ihr Freunde, die in menschlichen Werten denken und in euch das sittliche Wesen sehen, dem sie verpflichtet sind, nicht nur den zu ernährenden Leib. Euer bester Freund, arbeitende Menschen, ist der denkende Mensch. Meine Meinung ist, daß auch dieses Land und dieser Erdteil einst, wie es auf Erden schon vorkam, von den Wissendsten still und gewaltlos werden gelenkt werden.

Bis dahin freilich müßten wir alle weiser geworden sein. Der Entscheidungskampf der Klassen, der noch vor uns liegt, müßte dann schon hinter uns liegen. Die Wiedervergeltung, der Krampf müßten überstanden sein, die gewaltsame Aufhebung der Gewalt wäre geschehen. Dann ist es erlaubt, sich eine geklärte Luft zu denken und Menschen, die nicht durchaus einer des andern Wolf sind, die vielleicht schon etwas mehr Mensch sind.

Und sogar schon heute sollen und können wir alle in unseren Tageskämpfen festzuhalten trachten, worauf es dem Menschen und seiner Zukunft ankommt. Das Ziel ist gerechter Sinn, Vernunft, Reinheit. Das Ziel ist Friede.

Auf dem noch dunklen Weg, der dorthin führt, werden von Zeit zu Zeit Fackeln angezündet. Die Geschlechter reichen sie einander. Eine Fackel ist die Weimarer Verfassung. Wir wollen sie hochhalten.





Quelle: Heinrich Mann, „Rede zur Feier des Verfassung“, in Politische Reden III 1914-1945, herausgegeben von Peter Wende. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1994, S. 391-400. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten.

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