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Arbeitslosenversicherungsgesetz (1927)


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Graßmann (SPD), Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Das Gesetz hat wie alle seine Vorgänger das Schicksal der verschiedensten Beurteilungen erfahren. Während einige es als den Gipfelpunkt des im Augenblick möglichen Fortschritts auf sozialem Gebiet bezeichnet haben, waren andere der Meinung, daß es angesichts der mangelnden Erfahrungen bei dem Umfang, den es vorsieht, und bei den nicht leicht zu überblickenden finanziellen Folgen gewissermaßen einen Sprung ins Dunkle bedeute.

Meine Partei ist an die Beratung dieses Gesetzes mit der Nüchternheit herangegangen, die der Gegenstand erfordert. Sie ist aber auch mit dem ernsten Bestreben darangegangen, den sehr unzulänglichen ersten Entwurf so auszugestalten, daß er als ertragbar, als relativ günstig für die Arbeitnehmerschaft hier im Hause verabschiedet werden kann. Von diesen Bestrebungen ausgehend haben wir in den fünfmonatigen Verhandlungen im 9. Ausschuß und auch in den letzten Tagen hier im Plenum versucht, eine Reihe von Verbesserungen durchzusetzen, die geeignet sind, die Mängel dieses Gesetzes abzustellen. Es bleiben trotz einer Reihe von Fortschritten aber immer noch Bedenken ernster Natur gegen einzelne Bestimmungen dieses Gesetzes bestehen, und es erscheint notwendig, auch in der dritten Lesung auf diese Bedenken zurückzukommen.

Meine politischen Freunde sind der Meinung, daß bei diesem Gesetz der Wille zur weitestgehenden Selbstverwaltung seinen Niederschlag hätte finden müssen. Die Selbstverwaltung auf fast allen anderen Gebieten sozialer Versicherung hat den Nachweis geliefert, daß die über die Gestaltung der jeweiligen Gesetze bzw. ihre Durchführung befindenden und verantwortlichen beiden Interessentengruppen, wiederum getragen von ihrer Verantwortung, durchaus im Rahmen des Möglichen geblieben sind und Experimente vermieden haben. Wir haben daher mit besonderem Mißfallen feststellen müssen, daß bei diesem Gesetz ein Rückfall in eine Ära von uns längst überwunden geglaubter Bureaukratisierung festzustellen ist, den wir entschieden mißbilligen. Wir finden in § 21 des Gesetzes die Bestimmung, daß nicht die Interessenten, nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer die leitenden Persönlichkeiten in den verschiedenen Organen stellen, sondern daß hierzu der Reichspräsident allein befugt ist, der den Präsidenten der Reichsanstalt und deren Stellvertreter ernennt, der auch die Vorsitzenden der Landesarbeitsämter bestimmt. In Verbindung damit steht die Vorschrift des § 153f, aus der ersichtlich ist, daß »in gleicher Weise auch andere Beamte die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten erhalten können«. Wir haben uns gegen diese Bestimmung im Ausschuß gewehrt. Als Begründung für die angebliche Notwendigkeit dieser Bestimmung ist lediglich angeführt worden, ihr Fehlen würde dazu führen, daß bewährte Kräfte, darunter auch Wissenschaftler, nicht zum Eintritt bewogen werden könnten, wenn ihnen nicht die Beamteneigenschaft zugesprochen würde, wenn ihnen also nicht die Garantie für eine dauernde Stellung und entsprechende Besoldung im Staatsdienst gewährt würde, und zwar angesichts des Aufgebens einer bis jetzt innegehabten angenehmen zivilen Stellung. Wir erheben also gegen diese Verbeamtung in einem Gesetz, das weitestgehender Selbstverwaltung dienen soll, den schärfsten Widerspruch. Wir sind nach wie vor der Meinung, daß diese Verbeamtung nicht Aufgabe der Reichsanstalt sein kann, daß vielmehr zu ihrer Führung und Leitung in den verschiedensten Organen Männer des praktischen Lebens berufen werden müssen.

Ein Vorgang, der allerdings eine erhebliche politische Bedeutung nicht beanspruchen kann, der aber vielleicht symptomatisch für die Einstellung gewisser Kreise ist, gibt mir Veranlassung, ganz kurz darauf zurückzukommen. Der Herr Abgeordnete v. Ramin hat in der zweiten Lesung des Gesetzes mit dem Hinzufügen einer gewissen Drohung die Frage aufgeworfen, wer verantwortlich dafür sei, daß man den Inhabern des Versorgungsscheins die Möglichkeit nehme, irgendeine Tätigkeit in den durch dieses Gesetz geschaffenen Einrichtungen auszuüben. Der Herr Reichsarbeitsminister hat bereits gestern festgestellt, daß diese Behauptung des Herrn Abgeordneten v. Ramin unrichtig ist, daß die Inhaber von Versorgungsscheinen von der eventuellen Berufung zur Tätigkeit in der Reichsanstalt und in ihren Unterorganen nicht ausgeschlossen sind, daß ihnen nur ein Vorrecht nicht eingeräumt werden soll. Wir sind allerdings der Meinung, daß, wenn irgendwo die Eignung entlassener Angehöriger der Reichswehr, über deren Tätigkeit ich in diesem Zusammenhang weiter kein Wort verlieren will, die Eignung aus der zwölfjährigen Übung des Waffenhandwerks keine Gewähr für die Eignung in der Verwaltung bildet, so in den Einrichtungen, die durch dieses Gesetz geschaffen werden.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Das Gesetz sieht ja nicht nur vor, daß Arbeitslosenunterstützung gezahlt wird, sondern das Gesetz hat den ganzen Komplex der Arbeitsvermittlung in sich eingeschlossen, und wenn irgendwo Feinfühligkeit, Menschenkenntnis und Überblick über die wirtschaftlichen Verhältnisse die unbedingte Voraussetzung für die Berufung in derartige Posten ist, dann hier.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Wir können unmöglich annehmen, daß eine zwölfjährige Tätigkeit im Waffenhandwerk, daß etwa das zwölfjährige Verweilen in Kasernenstuben und auf dem Kasernenhof die Voraussetzung für die Eignung bilden könnte, in den durch dieses Gesetz geschaffenen Einrichtungen tätig zu sein,

(lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten)

namentlich wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der § 22 des Gesetzes ausdrücklich Fachkräfte für Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Arbeitslosenversicherung vorsieht und auch bei den übrigen Arbeitskräften der Versicherung eine entsprechende Eignung als absolut notwendig vorausgesetzt wird.

(Erneute lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Wenn der Herr Abgeordnete v. Ramin bei dieser Gelegenheit wieder einmal ein mißliebiges Wort über die »Gewerkschaftsbonzen« von sich gegeben hat, deren Hinaufrücken in solche »Sinekuren« ja Aufgabe dieses Gesetzes mit sein soll, die alle in diese offenen Stellen gebracht werden sollen, so nehme ich ihm das weiter nicht übel. Vorausgesetzt, daß seine Behauptung zutrifft, daß er ein Jahr Fabrikarbeiter war, nehme ich an, daß er sich in dieser Zeit mit gewerkschaftlichen Einrichtungen und gewerkschaftlichen Ideen nicht befreunden konnte, und daß dieses Nichtbefreundenkönnen die Ursache ist, weshalb er auf die Gewerkschaften so schlecht zu sprechen ist.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Daß Persönlichkeiten vom Schlage des genannten Herrn für die Arbeitsvermittlung, Berufsumschulung und Berufsausbildung geeignet sein sollten, erscheint mir nach seinem Auftreten hier durchaus zu verneinen zu sein; denn er hat wahrscheinlich nicht einmal das berühmte Buch seines Adelsgenossen über den Umgang mit Menschen mit Erfolg gelesen.

Wir verlangen, daß die Berufung aller notwendigen Beamten in die leitenden und untergeordneten Organe nur auf Grund der Selbstverwaltung selbst erfolgen soll, und wir sind ferner der Meinung, daß auch Anträge, die erst in den letzten Tagen gestellt wurden und die darauf hinausgehen, eine Zusammenfassung namentlich der Arbeitsvermittlung zu vereiteln oder abzuschwächen, der Ablehnung unbedingt würdig sind.

Wir sind der Auffassung, daß die gesamte Arbeitsvermittlung zentralisiert werden soll. Es ist unmöglich, auf der einen Seite den Gefahrenausgleich gegenüber irgendwelchen Schwankungen in der Wirtschaftslage zu zentralisieren, und auf der anderen Seite zu dulden, daß die Arbeitsvermittlung gewerbsmäßig und nichtgewerbsmäßig von Stellen ausgeübt wird, die nur oder zumeist nur ein materielles Interesse an dieser Arbeitsvermittlung haben können.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Insbesondere müssen wir uns dagegen wenden, daß diese nichtgewerbsmäßige Arbeitsvermittlung von Stellen ausgeübt wird, die ein politisches Interesse an der Aufrechterhaltung und Wirksamkeit der nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung haben.

(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

[…]

Ich will bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung des Herrn Abgeordneten Schneider (Berlin) richtigstellen. Weniger ihrer politischen Bedeutung wegen als um der historischen Wahrheit willen! In Entgegnung auf einen Rückblick meines Parteifreundes Aufhäuser sagte der Herr Abgeordnete Schneider dem Sinne nach, die Einführung der Erwerbslosenfürsorge durch die Verordnung der Volksbeauftragten sei nicht deren Verdienst gewesen, sondern sie sei vorbereitet worden durch die voraufgegangene, das heißt durch die kaiserliche Regierung. Diese Behauptung ist irrig. Richtig ist vielmehr, daß die damalige kaiserliche Regierung während des Krieges Anweisungen an die Gemeinden gegeben hat, Angehörige von solchen Berufen, die durch die Kriegswirkungen vollkommen zum Erliegen gekommen waren, zu unterstützen. Die kaiserliche Regierung hat aber Mittel für diesen Zweck nicht bereitgestellt.

(Hört! Hört! und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Die kaiserliche Regierung hat vielmehr die Durchführung dieser ihrer Anordnung den Gemeinden überlassen, und die Gemeinden haben je nach der Zusammensetzung ihrer Verwaltung und je nach den vorhandenen Mitteln dieser Anregung der kaiserlichen Regierung entsprochen, oder sie haben es bleiben lassen.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

[ . . . ]

Ebenso falsch ist auch die Behauptung des Herrn Abgeordneten Lambach, die gesamte Sozialpolitik habe ihren Ausgang von der kaiserlichen Botschaft genommen. Mein Gott, wie oft haben wir das schon richtig gestellt! Vor wenigen Monaten noch habe ich es hier bei einer anderen Veranlassung getan. Gerade der Mann, der für Sie (nach rechts) im Glanze eines Heros erstrahlt, Bismarck, ist es gewesen, der gesagt hat: Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe, und wenn es nicht so viel Leute gäbe, die sich vor ihr fürchteten, hätten wir keine Sozialpolitik! Also unterlassen Sie doch endlich eine Legendenbildung, die jederzeit durch einen Schwurzeugen widerlegt werden kann, gegen den auch Sie mit Ihrer Beweisführung nicht angehen können. Die kaiserliche Regierung hat damals lediglich versucht, die Wirkungen der politischen Propaganda der Sozialdemokratie und die Wirkungen gewerkschaftlicher Propaganda abzuschwächen, erfreulicherweise ohne daß ihr das gelungen wäre.

Der Herr Abgeordnete Lambach hat ferner seinem und seiner Freunde Wunsch auf Zulassung von Ersatzkassen Ausdruck gegeben. Ich möchte demgegenüber noch einmal mit allem Ernst und allem Nachdruck darauf hinweisen, daß sich meine Partei mit allen Kräften gegen Ersatzkassen zur Wehr setzen wird, jetzt und in Zukunft. Das ist für uns kein Parteidogma, aber wir wollen keine Zersplitterung des Unterstützungswesens, wir wollen vor allen Dingen keine Zersplitterung auf dem Gebiete der Krankenkassen. Wir wollen eine möglichste Zusammenfassung in große, leistungsfähige Ortskrankenkassen, weil wir nur mittels ihrer die Möglichkeit sehen, die Krankenfürsorge, namentlich auch die vorbeugende Krankenfürsorge, auf einen Zustand zu bringen, der gerechten Ansprüchen genügt. Wir können uns aus dem Grunde auch nicht für einen berufsständischen Umbau der ganzen Sozialversicherung aussprechen, und wir begrüßen es in diesem Augenblick ganz besonders, daß es gelungen ist, in diesem Gesetz den Unterschied zwischen Angestellten und Arbeitern zu verwischen, beide gemeinsam unter ein Versicherungsgesetz zu stellen.

[ . . . ]

Ich möchte also abschließend sagen, daß uns dieses Gesetz trotz mancher Verbesserungen nicht befriedigt. Für manche Parteien bedeutet es einen Abschluß, einen Abschluß, von dem gesagt wurde, daß er für sie gleichbedeutend sei mit einem Alpdrücken vor der Zukunft.

Für meine Partei und für die draußen stehenden wirtschaftlichen Organisationen bedeutet dieses Gesetz einen Anfang, eine Etappe zu weiteren Fortschritten.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Wir sehen in ihm ein hohes Gut verwirklicht, das Gut der Selbstverwaltung, wenn auch heute noch eingeschränkt und weit entfernt von dem von uns geforderten Zustand, so doch immerhin ein Gut, das uns wertvoll erscheint, weil es neben der Freiheit auch die starke Verantwortung für die Organe der Selbstverwaltung, für die Gruppe der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in sich schließt.

Wir sehen in der Durchführung des Gesetzes aber auch ein hohes sittliches, d. h. ein erzieherisches Moment. Die Arbeiter erhalten nicht nur als Beitragszahler, sondern auch unmittelbar dort, wo sie in den Organen der Verwaltung wirken, oder mittelbar, wo sie mit ihren Vertrauensmännern in der Verwaltung in Verbindung stehen, einen erweiterten Einblick in die Ursachen des Steigens und Fallens des Wirtschaftsbarometers. Stärker als bisher werden sie auf die Notwendigkeit gestoßen, sich um die Wirtschaft zu kümmern.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Das Auf und Ab der Wirtschaft wird in Zukunft den Arbeitern nicht nur bezüglich der relativen Sicherheit oder Unsicherheit ihres Arbeitsverhältnisses sichtbar, sondern das Auf und Ab in der Wirtschaft wird ihnen erkenntlich werden auch in der Festsetzung des Beitragssatzes. Darum ist es durchaus berechtigt, wenn auch dieses Gesetz für die Arbeitnehmerschaft die Mahnung erhält: Um deine eigene Sache handelt es sich, kümmere dich um die Wirtschaft.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Wir wollen keine Dreschflegelpolitik, weil wir nicht glauben, daß das Einschmeißen von Fensterscheiben irgend etwas an der politischen Lage oder an den wirtschaftlichen Voraussetzungen geändert wird. Aber wir glauben, daß unbedingt einem dumpfen Hindämmern weiter Arbeiterschichten entgegengearbeitet werden muß. Wir sehen in diesem Gesetz einen der Auftriebe, die die Arbeiterschaft veranlassen werden, aus klarer Erkenntnis und Zielbewußtheit heraus dieses Gesetz trotz seiner Mängel zu benutzen zum sozialen Aufstieg der Arbeitnehmerschaft insgesamt, zu einem Aufstieg, der mit einem Zustand abschließt, daß dieses Gesetz und ähnliche künftig überflüssig werden; denn wir erstreben einen Zustand, der neben anderen Schäden des heutigen Daseins und der heutigen Wirtschaft auch die Arbeitslosigkeit ausschließt. Wir wollen eine Gesellschaft, die jedem, der arbeitswillig ist, Brot und Arbeit garantiert!

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

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Quelle: Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Band 393. Stenographische Berichte. Druck und Verlag der Reichsdruckerei, Berlin, 1927. S. 11348-11354.

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