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Wilhelm Heinrich Riehl: Auszug aus Land und Leute (1851)

In diesem Abschnitt aus Land und Leute (1851) vertritt Wilhelm Heinrich Riehl die Position, Deutschland bestehe aus drei Regionen, deren jeweiliges Kennzeichen das unterschiedliche Verhältnis zwischen Stadt und Land sei; Stadt- und Landbewohner unterschieden sich überdies grundlegend voneinander. Außerdem kritisiert Riehl hier die „künstliche“ Verwandlung von Städten in Verkehrsknotenpunkte und Industriezentren; sie begünstige die Kleinstaaterei und hemme so die Bildung der deutschen Nation.

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Erstes Kapitel.
Örtliche Gruppen der Gemeindebildung in Deutschland. Natürliche und künstliche Städte. Die großen Städte.

Das Bestehen des Gegensatzes von Stadt und Land galt im Anfang unseres Jahrhunderts für eine so ausgemachte und gemeine Wahrheit, daß es ein politischer Kopf gar nicht der Mühe wert hielt, davon zu sprechen.

Jetzt ist die Behauptung, daß es in Deutschland noch Stadt und Land gebe, auf der einen Seite ein politischer Glaubenssatz geworden, auf der andern eine Ketzerei. Ich glaube noch an Stadt und Land, nicht darum, weil mir das in mein politisches System paßt, sondern weil ich doch wohl glauben muß, was sich als eine Tatsache täglich vor meine Sinne drängt.

Es gibt aber allerlei Stadt und Land in Deutschland, und die Stufen dieses natürlichen Gegensatzes sind so reich, so vielverschlungen, daß der einseitige Beobachter wohl glauben kann, Stadt und Land sei gar nicht mehr vorhanden.

Schon die geographische Vielgestalt der deutschen Landstriche wirkt bestimmend auf den Gegensatz von Stadt und Land. Städte und Dörfer gliedern sich hier nach großen Gruppen, die durch unverlöschliche Naturunterschiede, durch das Fundament der Bodenbildung auseinander gehalten sind. Der Wechselbezug von Land und Leuten ist auch hier als ein notwendiger gegeben, der durch historische Tatsachen, durch den politischen Gang der Nation in seinen äußeren Formen wohl mannigfach verändert, nicht aber in seinen Grundfesten erschüttert werden kann.

Im Hochgebirge, wo die Wildnis Herr ist, wo für Wald und Feld ewige Marken durch die Natur gesetzt sind, herrscht das Land über die Stadt; auch die vereinzelten Städtchen sind meist nur große Dörfer. Wo Felsen und Abgründe Dorf von Dorf, Hof von Hof scheiden, da kann es in alle Ewigkeit nur Bauern geben, keine Bürger. Wo der Nachbar dem Nachbarn den nächsten Besuch vom Herbst aufs Frühjahr zusagt, „wann das Gebirg wieder offen ist", da wehrt die Natur die Städtebildung. Das Dorf selbst erscheint hier oft noch in seiner Urform als eine Gruppe vereinzelter Höfe. Ja der einzelne Hof, die „Einöde", wie man's im Süden nennt, muß nicht selten eine ganze Gemeinde darstellen. Diese „Vereinödung" der Wohnsitze aber prägt den Leuten einen ganz bestimmten sozialen Charakter auf. Der Einödenbauer ist der Urbauer: der Welt verschlossen, in seinen Sitten erstarrt, in Bildung und Bedürfnissen zurückgeblieben, von Herz und Faust ein ganzer Mann, politisch aber ein unmündiges Kind. Die Einöde hat auch so gut ihr besonderes moralisches Gesicht, ihre erbgesessenen Laster eigenster Art wie die große Stadt.

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