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Franz Schulz, „Die Filmkritik” (1929)


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Die Filmkritik


„Lieber Gott, schütze mich vor Superlativen! Dieses Geschöpf ist die höchste Vollendung, ist dem lieben Gott (und sich selbst) geglückt wie keines seiner Werke auf diesem Gebiet. Nicht an mir ist es, dieses vollkommen schöne Auge, diesen vollendeten Vorfrühlingskörper, der Ausdruck in jeder Fiber ist, in Worten abzuschildern … wer es gesehen hat, wirklich gesehen – wie könnte er es je vergessen? … „

„…Wäre der Film im Stammkino für sechzig Pfennige gelaufen, man wäre schweigend ins Bett gegangen. Ihn aber vor einem geladenen Publikum als große Premiere zu zeigen, ist eine unverständliche Anmaßung. Elisabeth Bergner, hilflos und ohne Helfer, schleudert die Gliedmaßen wie jemand, dem es zum Stillstehen zu kalt ist; ein irritierendes Gestammel der Unterarme und der Augenlider; das Gesicht: zwei tote Augen im Gipsverband…“

Zwei Berliner Kritiken über denselben Film und dieselbe Schauspielerin.


Der groteske Gegensatz zweier Meinungen spricht nicht für oder gegen das kritisierte Objekt, nicht für oder gegen einen der beiden Kritiker, wohl aber spricht er klar und deutlich gegen die Institution der Kritik, wie sie heute geübt wird.

Es gibt zwei Deutungen über den Sinn der Kunstkritik: Die erste Deutung basiert auf der Fiktion, daß es einen normalen Geschmack gebe, den der Kritiker formuliert, indem er dem stilunkundigen Leser stilgerecht kredenzt, was jener sich „eh schon denkt“. Da die Voraussetzung vom Normal-Geschmack falsch ist, ist auch die Deutung falsch. Die zweite Version über den Sinn der Kritik sagt, es sei interessant zu lesen, was gewisse bedeutende Persönlichkeiten, deren Meinung in diesem Falle besonders bemerkenswert ist, [an? von?] einem Theaterstück, einem Bild oder einem Film halten. So wie es interessant wäre, Einsteins Meinung von einer neuen astronomischen Theorie, Shaws Ansicht über Sowjetrussland und Mussolinis Einwände gegen Primo de Rivera zu erfahren. In diesem Falle ist das kritisierte Objekt sekundär, primär ist das kritisierende Subjekt. Auf die zünftige Kunstkritik angewandt, würde das bedeuten, daß es – abgesehen von ihrer Machtstellung als Kritiker – besonders zu wissen interessiere, was die prägnante Persönlichkeit X. von diesem Theaterstück, die Persönlichkeit Y von jenem Film denkt. Da es aber viel mehr Kritiker als prägnante Persönlichkeiten auf der Welt gibt, scheint auch diese Deutung illusorisch.

Ist also die zünftige Kunstkritik in all ihren Zweigen eine problematische Angelegenheit, so ist die Film-Kritik doppelt problematisch darum, weil der Film nicht nur eine Kunstgattung, sondern auch eine Industrie ist, weil seine Beurteilung, im Gegensatz etwa zum Theater, nicht nur künstlerisches Verständnis, sondern auch technische und kommerzielle Informiertheit voraussetzt. Der Kreis der wirklich berufenen Beurteiler ist demnach viel enger, als bei Musik, Theater oder Malerei.

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Bisweilen liest man in Kritikern, die Schauspieler seien ausgezeichnet gewesen, der Regisseur aber habe versagt. Das ist glatter Unsinn. Auf der Bühne, wo der Schauspieler aus der Intuition der Rolle schöpferisch wirken kann, ist das allenfalls möglich, im Film aber, wo Bruchstück zusammengesetzt ist, wo der Schauspieler oft gar nicht weiß, worüber er lacht, worüber er weint, sondern nur weiß, daß wer zu lachen oder zu weinen hat, wo die Art, wie er zum Apparat gestellt, wie er beleuchtet, wie er geschminkt ist, oft schwerer wiegt, als die ausgespielte Szene, die ja doch durcheinandergeschnitten wird, besagt ein solches Urteil Unkenntnis der Materie. Und wenn in einer der größten Berliner Zeitungen zu lesen stand, im ersten und zweiten Akt seien die Schauspieler noch unsicher gewesen, vom dritten Akt an aber hätten sie sich eingespielt (wo doch jeder Laie weiß, daß die Szenen eines Films nicht in der Reihenfolge des Manuskripts, sondern in der Reihenfolge der Dekorationen gedreht werden); wenn ich in einem andern groß Berliner Blatt jüngst las, der amerikanische Film „Auferstehung“ habe sich durch schöne Landschaften ausgezeichnet (die Landschaften waren in ungewöhnlich primitiver Art auf Glasplatten gemalt), so glaube ich damit und mit all dem, was ich hier sagte, bewiesen zu haben, da? wenn eine Kritik des Films notwendig ist, zumindest ebenso notwendig eine Kritik der Filmkritik wäre.



Quelle: Franz Schulz, „Die Filmkritik“, Das Tagebuch, Berlin, 27. April 1929, Heft 17, Jahrgang 10, S. 696-701.

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