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Luise Rinser: Antwort an Hermann Hesse (1946)

Die Schriftstellerin Luise Rinser, die ihren Mann im Krieg verloren und 1944 nach einer Denunziation verhaftet worden war, zu Beginn des Krieges aber auch Texte mit NS-Sympathien veröffentlicht hatte, gibt Hermann Hesse in seiner Kritik recht und beklagt den „Mangel an Stolz und Einsicht“ der Deutschen. Man weigere sich, die politische Realität anzuerkennen.

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[ . . . ] Es ist alles wahr, was Sie schreiben. Keiner will es gewesen sein, jeder will entnazifiziert werden. [ . . . ] Genau so wenig wie man arisiert werden kann, kann man entnazifiziert werden. Für mich ist Nazismus Charakter gewesen, unverleugbare Charaktereigenschaft.

Wie kann man durch eine Verfügung einer Spruchkammer von einem Makel befreit werden, der im WESEN liegt! Man kann durch eine lange harte Wandlung sich befreien, das ist etwas anderes. Besonders abscheulich finde ich, wenn diese Leute nun sagen: Ich bin doch nur ein Mitläufer gewesen. Ich würde mich zu Tode schämen, das zu sagen. Lieber noch ein böser echter Nazi, vom Teufel getrieben, als bloß ein Mitläufer. Welcher Mangel an Stolz und Einsicht! [ . . . ]

Es gibt noch viel schlimmere Dinge bei uns, von denen Sie nichts schreiben. Das ist beispielsweise die Angst vor dem Sozialismus, der die Wandlung im Großen und Kleinen verlangt. Diese Leute triefen von schönen Worten: Freiheit, Ehrfurcht, Schönheit, deutsche Kultur [. . . ] und die nicht gesonnen sind, die reale Welt zu sehen. Ich war kürzlich eingeladen zu einem Kongreß der Jugend in Frankfurt a. M. Man sprach zu dieser armen, verwirrten, zu Krüppeln geschossenen, blassen Jugend, die keine Zukunftshoffnung hat, kein Geld, nur Schwierigkeiten aller Art, man sprach ihr von einer neuen Verfassung, von Gotterfülltheit des Lebens, [. . . ] und die Jugend saß da und schwieg. Man will einen zweiten „Hohenmeissner“ machen, künstlich von den Universitätsprofessoren arrangiert. Man will die Jugend damit abziehen vom wirklichen politischen Leben. (Und heute ist ALLES Politik . . .) Man macht in deutschem Idealismus, aber wenn es darum geht, etwas Realpolitisches zu tun, schreckt man zurück. So habe ich kürzlich in einer Rede in München von der Not der Jugend gesprochen und verlangt, daß man Heime für die gefährdeten deutschen „Besprosonis“ [jugendliche Obdachlose] schafft. Man sagte mir offiziell, daß man erst die Lösung des deutschen Währungsproblems abwarten müsse. Aber ich bohrte weiter und spielte die Bayerische Regierung gegen die Großhessische aus, und heute steht in der Neuen Zeitung, daß wirklich Heime geschaffen werden.

Es ist sehr schwierig hier zu leben [ . . . ] aber überall sind Kräfte am Werk. [ . . . ] Viele Frauen sind es, die klarer als die Männer die Wirklichkeit sehen. Die Männer schmollen, weil man sie nicht mehr Soldaten spielen läßt. [ . . . ] Sie haben mir in Ihrem schönen Brief Klugheit und einen wachen Blick zugeschrieben. Vertrauen Sie nun, bitte, diesem Blick, wenn ich Ihnen sage, daß es eine wenn auch zahlenmäßig nicht große, aber in der geistigen Vitalität und in ihrem politischen Rüstzeug beachtliche Schicht gibt, die am Frieden mitarbeitet. [ . . . ]



Quelle: Luise Rinser, „Antwort an Hermann Hesse“, Manuskript; abgedruckt in Klaus Wagenbach, Hg., Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute. Berlin: 1979, S. 53 f.

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