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Alfred Kurella über die „Einflüsse der Dekadenz” (Juli 1957)

Der Schriftsteller und SED-Kulturfunktionär Alfred Kurella kritisiert 1957, daß die sozialistischen Künstler sich immer noch nicht genügend von den Theorien und Formen der modernen bildenden Kunst lösen, die er als bürgerlich, dekadent und vom Verfall geprägt charakterisiert. Damit verfehlten sie ihre Aufgabe, neue wahrhaft sozialistische Kunstwerke für die kulturell interessierten Massen in der DDR zu schaffen

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Einflüsse der Dekadenz

[Diskussionsrede Alfred Kurellas auf dem Ausspracheabend des Kulturbundes in Leipzig, Juli 1957, Wortlaut des im “Sonntag” veröffentlichten Auszugs]


Im gewissen Kreisen der Kunsttheoretiker und Künstler der Deutschen Demokratischen Republik ist es Mode geworden, die Dekadenz überhaupt zu leugnen oder jedenfalls zu bestreiten, daß sie eine negative, kulturzerstörende Tendenz ist. Es gibt bereits ganze Ketten von Argumenten, die eine Apologetik, eine grundsätzliche Rechtfertigung der Dekadenz und der von ihr hervorgebrachten Kunst- und Kulturphänomene darstellen. Diese Argumente klingen oft einleuchtend. Tatsächlich ist es so, daß große Begabungen der spätbürgerlichen Gesellschaft mindestens bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, wenn sie sich irgendwie im Widerspruch mit der bürgerlichen Gesellschaft befanden, zu den von der zeitgenössischen Dekadenz gelieferten Ausdrucksformen griffen. Dadurch konnte der Eindruck entstehen, als handele es sich hier um eine notwendige Entwicklung, als sei das »Neue« unserer Zeit hier zu suchen.

Solchen Versuchen, einzelne Kunstleistungen, in denen ein echtes Bemühen um Neues sich dekadenter Ausdrucksformen bediente, zur Rechtfertigung der Dekadenz im ganzen zu benutzen, kann man nur entgegentreten, wenn man noch einmal klarstellt, worum es sich bei der Dekadenz überhaupt handelt. Selbstverständlich läßt sich das hier nur andeuten.

Der verlorene »Sinn des Lebens«

Dekadenz ist für uns ein Phänomen der spätbürgerlichen Entwicklung. Es bezeichnet eine spontane, anarchische Auflösung bis dahin geschaffener Kulturwerte, die mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine imperialistische Phase das ganze Kulturleben ergreift. Die herrschende Klasse der großen kapitalistischen Länder wird immer mehr parasitär, wobei eine wachsende Zahl der nur zu ihrer Bedienung tätigen Personen ebenfalls von dieser parasitären Lebensform ergriffen wird. Bei der arbeitenden Klasse setzt ein Prozeß der geistigen und moralischen Verelendung ein, bei dem die von Marx festgestellte entmenschende Auswirkung der kapitalistischen Lohnarbeit neue Formen annimmt. Beide Prozesse verdunkeln im wachsenden Maße den menschlichen Inhalt des Lebens, lassen das animalische Element der menschlichen Existenz in den Vordergrund treten. Alles zusammen läßt das Leben mehr und mehr sinnlos erscheinen. Vom alten, klassischen Humanismus her läßt sich der verlorene »Sinn des Lebens« nicht wiedergewinnen. Nur die Wendung, die Marx dem Humanismus gegeben hat und die leider auch bei uns in ihrer ganzen Tiefe nicht richtig verstanden ist, gestattet einen neuen, vorwärtsweisenden Ausblick auf alle Gebiete der Kultur und Kunst.

Die Verarmung und Entleerung des praktischen Lebens in der imperialistischen Phase der Entwicklung wird begleitet von einer Auflösung der Formen nicht nur in allen Künsten, sondern auch in den Beziehungen der Menschen untereinander. Zur Begründung dieses ganzen Verfalls bemüht sich eine Schar von Theoretikern, das klassische Menschenbild aufzulösen die »Nachtseiten«, das Tierische in der menschlichen Natur ins Blickfeld zu rücken, Entartung und Krankheit zu verherrlichen, ja, sie mitunter zur Quelle aller großen Leistungen, vor allem in der Kunst, zu erklären. Experimente mit neuen Kunstformen, die anfänglich Protest gegen die Verflachung der Kunst des saturierten Bürgertums und analytisches Bemühen um die Wiedergewinnung verlorengegangener großer Kunstformen waren, wurden mehr und mehr Ausdrucksformen für eine dekadente, depressive Auffassung vom Menschen als einem verworfenen, angstgejagten, zum Scheitern verurteilten Wesen.

Das ist in großen Zügen das Phänomen der spätbürgerlichen Dekadenz und ihrer Äußerung in der Sphäre der Kunst. Daß in diesem sehr komplizierten Prozeß auch positive Leistungen zustande kommen, daß manchmal wirklich Neues geschaffen wird, was auf die Seite des kulturellen Aufstiegs und nicht auf die das Verfalls gehört, ändert nichts an der Tatsache, daß wir es bei der Dekadenz im ganzen mit einem kulturfeindlichen, zerstörerischen Prozeß, mit Verfall zu tun haben. Aufgabe einer sozialistischen Kultur ist es, das gesellschaftliche, das Geistes- und Kunstleben der betreffenden Nation vor dieser Zerstörung zu retten und die nationale Kultur aus der ungebrochenen großen Tradition, durch Weiterbildung im Interesse der neuen gesellschaftlichen Ordnung wieder herzustellen und fortzuführen.

Die Sicht von Menschen, die jene dekadente Kunst ernst nimmt, ist winzig klein, auch wenn man alle dazu rechnet, die sich, sei es als Künstler, sei es als Kunstgenießer dazu bekennen, weil es »Mode« ist und zum guten Ton gehört. Immerhin ist in den großen kapitalistischen Ländern eine entscheidende Schicht von Künstlern von der Dekadenz erfaßt, und das hat recht gefährliche Auswirkungen.

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